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Ingrid Deethelm-Uzun

© privat

Nachruf auf Ingrid Deethelm-Uzun: Etwas Neues versuchen!

Kurz war sie Perlenstickerin. Dann wanderte sie nach Kanada aus, mit 21 Jahren.

Gefunkelt hat es wirklich nicht besonders, damals nach dem Krieg, alles kaputt und grau, die Häuser, die Gesichter, eine große, bedrückende Tristesse. Doch in Friedenau, in der Wohnung eines 30er-Jahre-Baus, glitzerte und blinkte es in allen Ecken. Überall Kästchen und kleine Beutel, gefüllt mit Glasperlen, durchscheinendes Rot, helles Blau, kristallenes Grün, Farben in jeder Schattierung. Dazu Flitter und Strass in Gold und Silber. Und inmitten dieser Herrlichkeit saß Ingrids Mutter, spannte Kleiderstoffe auf Rahmen, fädelte feine Garne durch schmale Nadelöhre, führte die Nadel dann durch das Loch einer winzigen Perle und befestigte sie mit geschickten Stichen auf dem Gewebe, bis ein Muster entstand. Sie war Perlenstickerin.

Die Aufträge und Stoffe und Perlen erhielt Ingrids Mutter von einer Firma, die Kleider für ein paar Damen der besseren Gesellschaft anfertigte – soweit es solche überhaupt noch gab. Meist arbeitete sie zusammen mit einer anderen Frau, sie hockten auch tief in den Nächten bei funzeligem Licht über ihren Stickereien. Am Tage war es den drei Kindern, zwei Mädchen und einem Jungen, Ingrid war die Erstgeborene, streng untersagt, die magisch schimmernden Glasperlen zu berühren, mit ihnen zu spielen. Es gab ja sonst nicht so viel, was man hätte tun können, außer in den Ruinen herumturnen, im Haushalt helfen, Hunger haben. Ein eigenes Kleid mit den gläsernen Kostbarkeiten zu besitzen, war gänzlich ausgeschlossen.

Der heimkehrende Vater - ein fremder Mann

Ingrids Vater hatte im Krieg gekämpft und dann jahrelang in Gefangenschaft gesessen, die Mutter musste sich und die drei all die Zeit über allein durchbringen. Als der Vater endlich wiederkehrte, war er für seine Kinder zunächst ein fremder Mann. Doch die Lage besserte sich, er fand eine Tischlerstelle im Auguste-Victoria-Krankenhaus, reparierte Fenster und Betten und Fußböden.

Am 28. Mai 1957 wurde der „Zoo Palast“ in der Hardenbergstraße wieder eröffnet. 14 Jahre zuvor war er bei einem Luftangriff fast vollständig zerstört worden. Die Architekten hatten für den großen Kinosaal einen 60 Meter langen Vorhang vorgesehen, der über und über mit glänzenden Perlen bestickt werden sollte. Der Auftrag ging an Ingrids Mutter und die Frau, mit der sie zusammen arbeitete. Sie überlegten, sie planten und entschieden dann, dass eine solche Mammutaufgabe von ihnen beiden allein bei allem guten Willen, bei allem Fleiß nicht zu schaffen war. Welche Enttäuschung. Auch für Ingrid. Der „Zoo Palast“, ein Ort, an dem Berühmtheiten aus aller Welt ein- und ausgehen würden, wo diese Berühmtheiten das Auf- und Zuziehen dieses riesigen Vorhangs, der in einer kleinen Berliner Wohnung entstanden wäre, gesehen hätten.

Trotz dieser Ernüchterung beschloss Ingrid, auch Perlenstickerin zu werden. Sie stickte strahlende Perlen auf weich fallendes Tuch und trug selbst nur matte, verblasste Farben. Und entschied sich nach kurzer Zeit, etwas Neues zu versuchen.

In den 50er Jahren brauchte Kanada dringend Arbeitskräfte und verkündete dies auch in Deutschland. Viele machten sich auf den Weg, unter ihnen Ingrid. Sie nahm all ihren Mut zusammen und wanderte mit 21 nach Toronto aus. Zuvor benötigte sie einen Bürgen, was kein Problem war, da sie jemanden kannte, der schon drüben war. Dann bestieg sie ein Schiff und fuhr tagelang über den Atlantik in Richtung Neue Welt.

Das Elvis-Presley-Gedächtniseis

Es gibt nur wenig über diese sieben Jahre, die sie in Toronto lebte, zu erzählen. Es ist so lange her, kaum jemand, der berichten könnte, lebt noch. Und die, die noch leben, wissen nichts, da der Kontakt dürftig war, der eine zog dorthin, der andere machte jenes. Wenn man sich mal sah, zu Weihnachten oder einem Geburtstag, beschränkten sich die Gesprächsthemen auf die Gans oder den Weihnachtsbaum oder die Anzahl der Gäste, auf das, was gerade anlag. Bekannt ist allerdings, dass Ingrid in Kanada einen Schweizer geheiratet hat. Die Ehe ging schief, die Scheidung wurde eingereicht, und Ingrid kehrte zurück nach Deutschland. Was sie in Toronto gemacht hatte, wie sie wohnte, ob sie viele Freunde hatte oder sich allein und fremd fühlte, ob sie im Meer schwimmen ging oder durch die Berge wanderte, bleibt verborgen.

In Berlin jedenfalls bestickte sie keine Stoffe mehr mit bunten Glasperlen, sondern kellnerte in Cafés und Restaurants. In der Feinkostabteilung bei „Karstadt“ in Tempelhof, in dem 47 Meter hohen Poparchitekturbau „Turmrestaurant Steglitz“ in der Schloßstraße, den die Berliner „Bierpinsel“ nennen. Da trug sie, wie es sich gehörte, einen schwarzen Rock, an dem man das voluminöse Kellnerportemonnaie befestigen konnte, eine weiße Bluse, eine weiße Schürze und an den Füßen spezielle, hoch geschnürte Kellnerschuhe.

Das stundenlange Hin- und Herlaufen kostete Kraft, dafür begegneten ihr die drolligsten Leute. Dieser Mann zum Beispiel, der am 17. August 1977 auftauchte und ein Elvis Presley-Gedächtniseis bestellte. Ingrid begriff sofort, dass der Mann einen „Tutti-frutti-Becher“ bekommen musste. Einen Tag zuvor war der King of Rock ‘n’ Roll gestorben, „Tutti Frutti“ hatte auch er gesungen.

Ingrid heiratete ein zweites Mal, einen Herrn Uzun, doch über ihn und die Ehe ist auch kaum etwas bekannt. Nur so viel, dass sie sich nach fünf oder sechs Jahren scheiden ließen.

Sie lebte wieder bei ihrer Mutter, und als die gestorben war, zog sie, mit noch nicht einmal 60, in eine Wohnung, in der alles so eingerichtet war, dass sie dort auch später, wenn sie weniger gut zu Fuß und auf Hilfe angewiesen sein würde, komfortabel und selbstbestimmt leben könnte.

In den letzten Jahren saß sie meist vor ihrem Fernseher und schaute Tiersendungen, eine nach der anderen. Hin und wieder telefonierte sie mit ihrer Schwägerin. Was guckst du denn gerade?, fragte die und Ingrid antworte: Jetzt bin ich gerade in Neuseeland.

Sie war ganz klar im Kopf, lief am Ende mit einem Rollator und dann passierte, was so häufig passiert, sie brach sich den Oberschenkelhals. Davon erholte sie sich nicht mehr.

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