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Jim Dick

© privat

Nachruf auf Jim Dick: Schwarze Nelken zum 1. Mai

Etwas Künstlerisches sollte es sein. Doch die Unruhe blieb. Immer Zweifel, immer Ängste. Immer auf der Suche.

Jim ist cool. Der Typ, und auch der Name. Jim Dick. Wie die Figur in einer Short Story. Oder der Autor der Short Story. Gegen Jim klingt Ralf ziemlich provinziell. Ralf ist Jims Ausweisname. Sein eigentlicher Name. Was aber auch nicht stimmt; ganz am Anfang hieß er Alf.

Warum Jim? Es gibt zwei Versionen. Die erste: Ralf war der einzige, der höher als alle anderen singen konnte, so hoch wie Jimmy Somerville, der Bronski Beat-Sänger, „Alone on a platform, the wind and the rain on a sad and lonley face...“ Die zweite Version: Ein Freund schenkte ihm einen Shell-Parka, einen Originalmantel des amerikanischen Militärs, in dem der Name des GIs stand, dem der Parka zuvor gehört hatte: Jim.

Mit Jim war Ralf weit weg, und Alf sowieso.

An seine Mutter konnte Jim sich nicht erinnern. Sie hat ihn zur Welt gebracht, Alf genannt und dann allein gelassen, eingesperrt in einem Zimmer, in einem Laufstall. Sein Vater soll ein LKW-Fahrer gewesen sein. Seine Mutter bekam noch andere Kinder, alle von anderen Vätern. Sie hat geklaut und während der Schwangerschaft getrunken und geraucht. Sie hatte keine Kraft, sich zu kümmern. Die Behörden schalteten sich ein. Jim musste ins Heim, mit dreieinhalb wurde er von den Eheleuten Dick adoptiert. Die Dicks machten aus Alf Ralf. Das einzige, was er damals, nach dem Heim, besaß, waren ein Buch über einen gelben Teddy und ein kleines weiches Tuch. Wenn das Tuch weg war, zerpflückte er fiebrig sein ganzes Bett, bis er es wiederfand, auch noch Jahrzehnte später.

Alles sollte sauber sein

Die Dicks lebten in Jena. Die Mutter war eine freundliche Frau, die sah, wie gut er zeichnete und ihn ermunterte, weiter zu machen. Der Vater wollte nur das Beste, aber es war nicht das Beste für Jim. Der hatte das Bett auf Kante zu falten. Alles sollte sauber sein, vom Zimmer bis zu den Zähnen. Manchmal riss sich der Vater ein Haar aus und legte es auf Jims Zahnbürstenkopf, um kontrollieren zu können, ob die Bürste benutzt wurde. Er kam selbst aus einem Prügel- und Säuferhaushalt. Jim wusste nicht, dass er ein Adoptivkind war.

1977 zog die Familie nach Berlin, denn es hatte Gerede in Jena gegeben, dieser Junge da, der hat doch eigentlich eine andere Mutter, sitzt die nicht im Gefängnis?

Mit 18 erfuhr er, dass die Dicks nicht seine leiblichen Eltern waren und zog aus, in eine Wohnung in der Alten Schönhauser, keiner kann mehr sagen, wer da wann mit wem zusammen lebte, welche Party die verheerendste war. Auf allen lag noch das Samtige der Jugend, sie waren im Aufbruch, und mit dem Fall der Mauer schienen die Möglichkeiten unermesslich.

Jim hatte immer etwas Künstlerisches vorgeschwebt. Einmal saßen er und sein Vater vor dem Fernsehapparat, auf dem Bildschirm tauchte Andy Warhol in seiner Factory auf. Wer ist das?, fragte Jim. Der Vater antwortete: Irgend so ein Spinner. Es verstrich ein Moment, dann Jim: So will ich auch mal werden.

Er machte eine Lehre zum „Schauwerbegestalter“. Zu einem 1. Mai, dem „Internationalen Kampf- und Feiertag der Werktätigen“, sollte er ein Schaufenster mit Nelken aus roter Folie bekleben. Rote Folie war nicht mehr zu finden. Also nahm er schwarze. Zum Festtag eine ganze Scheibe in Trauerflor. Das gab Ärger.

Er stellte einen Ausreiseantrag, jobbte in der Charité, musste Operationsmüll hin und her tragen, die Leute gängelten ihn unaufhörlich, er unternahm einen halbherzigen Suizidversuch, und dann konnte er raus aus dem Land, im Sommer 1989.

Noch unruhiger, großmäuliger

Jim gestaltete Flyer und Plattencover, studierte Marketing, arbeitete bei der „Berliner Zeitung“, machte im „Delicious Doughnuts“, einem Club in der Rosenthaler Straße, mit. Und er bediente sich am Kokain, das überall in rauen Mengen rumlag. Dieser unruhige, großmäulige Typ, der gleichzeitig so zugewandt, so ungeheuer loyal war, wurde durch das Zeug noch unruhiger, großmäuliger. Er gab den Kaspar auf Partys, setzte sich Perücken auf die Glatze, erzählte eine Wahnsinnsanekdote und noch eine, war ein Spitzentänzer.

Und tief in sich drin kämpfte er mit seinen Dämonen.

Nachdem er Grit kennengelernt, nachdem er eine Drogentherapie gemacht hatte, sagte er: Hätte ich so weiter gekokst, wäre ich gestorben.

2004 wollten die beiden weg aus Berlin. Sie spielten das Streichholzspiel. Kurz für Kreta, lang für New York. Sie zogen das kurze Hölzchen.

Auf Kreta arbeitete er für eine Athener Zeitung, eröffnete ein Grafikbüro und brachte ein Magazin für Touristen heraus. Dann bot ihm die „Bild“ eine Stelle an. Trennung von Grit. Zurück nach Berlin.

Insa sah Jim zum ersten Mal bei der „Bild“ in Hamburg. Glatze, schwarzer Anzug, schwarze Turnschuhe. Ein Kollege flüsterte ihr zu: Was is’n das für’n Spinner? Zum ersten Date brachte Jim Insa Schokobananen mit. Sie wusste, es würde nicht einfach werden.

2012 kündigte Jim bei der „Bild“, alles kam ihm piefig vor, ich will kreativer sein, sagte er, will Preise gewinnen. Er stieg bei „In Graphics“ ein, einem Magazin über Infografiken, baute die Titanic, das historische Olympia, den Palast der Republik am Computer in 3D nach und gewann Preise.

Aber die Unruhe blieb. Immer Zweifel, immer Ängste. Immer auf der Suche. Ein diffuses Gefühl. Jede Kritik empfand er als Beleidigung. Wenn er nicht dreimal am Tag gelobt wurde, war’s ein Scheißtag. Er zeigte plötzlich pedantische Züge, legte Küchenpapier in jede Schublade, ordnete die Dinge im Kühlschrank nach Haltbarkeitsdatum. Er stritt sich um Kleinigkeiten. Dann Sätze wie: Mir tut der Kopf weh, ich glaube, ich hab einen Tumor. Ständige Vorsorgeuntersuchungen. Nur beim Segeln, auf seinem Boot, entspannte er sich.

Jim ging zurück zur „Bild“, wurde Leiter der Infografik. Produzierte keine große Kunst mehr, aber gute Sachen.

Jede Woche fuhr er zu seinem Vater und seiner Mutter, telefonierte täglich mit ihnen. Und alles, die Arbeit, die Eltern, machte ihn fertig.

Am 10. September um 6.33 Uhr wählte er die Nummer des Rettungsdienstes. Der kam schnell, aber zu spät.

Insa fand auf Jims Laptop, dass er das Wort Herzinfarkt gegoogelt hatte.

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