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Jutta von Stieglitz

© privat

Nachruf auf Jutta von Stieglitz: „Willst du nicht wissen, wie alt ich bin?“

Druckerin war sie und Buchhändlerin, sie fuhr Lkw bis in die Türkei. Und landete beim Film. So viel tat sie, bis es zu viel wurde.

Eine Frau, Jeans, T-Shirt, praktische Jacke, sitzt in einer Maschine, die sich im Landeanflug befindet. Kurz darauf nimmt sie ihr Gepäck in Empfang, fährt in ein Hotel, jemand gibt ihr ihren Zimmerschlüssel, sie betritt das Zimmer, in der Dusche aber stehen zwei Männer, ein Handwerker und der stellvertretende Manager des Hotels.

So in etwa könnte der Beginn eines heiteren Filmes aussehen, in dessen Verlauf sich die Figuren auf amüsante Weise näherkommen, wobei die Frau selbst Kamerafrau und Regisseurin ist.

Die auf die Eingangssequenz folgenden Szenen scheinen ebenfalls von einem Drehbuchautor geschrieben: Weil die Reparatur der Dusche noch eine Weile dauert, setzt sich die Frau aufs Bett und wartet. Sie ruft ihre Mutter an, plaudert ein wenig. Das hört der stellvertretende Hotelmanager. Er mag Leute, die eng mit ihrer Familie verbunden sind, denn er ist es seinerseits auch. In den nächsten Tagen laufen sich die beiden ab und an im Hotel über den Weg und sprechen von Begegnung zu Begegnung immer ein paar Worte mehr miteinander.

Dann fragt die Frau den Mann eines Nachmittags: Wann gehen wir denn mal essen? Sie fragt das einfach so, ohne jede Scheu. Sie gehen gemeinsam essen und spazieren später noch ein wenig umher, halten an einem Straßenstand, nehmen einen Karotten- und einen Mangosaft, der Verkäufer, den keiner von beiden kennt, drückt ihnen seinen Autoschlüssel in die Hand, sie setzen sich in das Auto. Und küssen sich.

Kein Zucken, kein Verziehen

Weiter im Drehbuch. Die Frau fliegt nach Hause. Und kommt zwei Wochen darauf wieder zurück. Sie fragt den Mann: „Willst du nicht wissen, wie alt ich bin?“ – „Na, dann sag“, erwidert er. Und sie: „44.“ Alles ungefähr so, auf Englisch. Während sie die Zahl nennt, guckt sie intensiv in sein Gesicht, um nicht die kleinste Regung seiner Züge zu verpassen. Da ist nichts, kein Zucken, kein Verziehen. Ihr Alter ist ihm vollkommen gleichgültig. Er selbst ist 24.

So weit das Heiter-Filmhafte, wie es ganz und gar zu Juttas Wesen passte, offen, humorig, gesprächig. Allerdings hätte sie selbst einen solchen Film nie gedreht. Und schaut man genauer hin, sind auch die Szenen zwischen ihr und Haroon keineswegs nur amüsant. Sie spielen in Afghanistan. Das Flugzeug, in dem sie saß, war eine Bundeswehrmaschine, die in Kabul landete. Ihr Auftrag lautete, einen Film über die Menschen dort zu drehen, Porträts von Leuten in ihrem Alltag. Alle ihre Filme behandelten mehr oder weniger politische Themen, und die sind selten heiter.

Wie auch, schaut man noch etwas genauer hin, ihr Leben nicht immer heiter verlief. Ihr Vater hatte in der Nazizeit den Rang eines Kulturattachés, ihre Mutter war Schauspielerin und gerade dabei, bekannt zu werden. Sie spielte eine Nachwuchsschauspielerin in „Die Wirtin zum Weißen Rößl“, einem der erfolgreichsten Filme der Zeit, den die Alliierten 1945 wegen seiner Blut- und Bodeninfamie verboten.

Der Vater seinerseits sprach nach dem Krieg immerfort von der nunmehr fehlenden Struktur und Disziplin, die jungen Leute würden nur noch herumlaufen und lachen. Er untersagte der Mutter, weitere Filmangebote anzunehmen, woraufhin sie in depressiver Stille versank. Die Eltern ließen sich scheiden, die Mutter zog mit Jutta von München nach Riederau am Ammersee, der Vater besuchte sie an den Wochenenden. Sie waren da, beide, und sie entzogen sich, ihre Tochter: verloren inmitten der geregelten Regellosigkeit.

So würde es nicht sein für Rubina, für Juttas eigenes Kind, nein, niemals, sie würde ganz und gar da sein. Sie war da. Jutta und Haroon hatten geheiratet, lebten jetzt gemeinsam in Berlin, wohin Jutta Anfang der 80er, gezogen war. So schnell wie möglich weg vom Ammersee. Sie hatte Wohnungen in Kreuzberg besetzt, eine Ausbildung in einer Druckerei gemacht, und dann eine zur Buchhändlerin, hatte sich nicht festlegen können und wollen, arbeitete hier und da, fuhr LKWs bis in die Türkei. Transportierte eines Tages das Filmequipment für einen Freund, der ihr einen Job als Beleuchterin verschaffte, sie stieg, ganz ohne Ausbildung, auf zur Oberbeleuchterin, nahm zum ersten Mal eine Kamera in die Hand und begann dann ein Studium an der Hochschule für Film und Fernsehen in Babelsberg.

Sie drehte, fuhr mit einem Stipendium nach Los Angeles, erhielt Preise, verreiste mit Haroon und Rubina. Sie kannte tausend Leute, sprach, lachte, brachte andere zum Lachen. Zum Beispiel damals, noch in Kreuzberg, als sie, es war ziemlich kalt draußen, bei einem Freund geklingelt hatte, um ihn nach einer Taucherbrille zu fragen. Eine Taucherbrille? Ja, sagte sie, die Uhr ihres Vaters, der gestorben war, sei in den Landwehrkanal gefallen, sie müsse diese Uhr unbedingt wiederfinden, jetzt, sofort. Der Freund gab ihr die Brille. Sie tauchte tatsächlich und fand die Uhr.

Irgendwann aber begann sich etwas Dunkles, Abgerissenes in ihr Lachen zu mischen. Sie war erschöpft, von letztlich allem, dem ewigen Ringen um Fördergeld, von ihrer Mutter, fast hundert, die sie nach Berlin geholt hatte, um sie zu pflegen, von Alltagskleinigkeiten.

Sie gab das Filmen auf. Fand eine Stelle bei der Künstlervermittlung des Arbeitsamtes, organisierte große Veranstaltungen, und dennoch konnte sie die Unzufriedenheit, die den Menschen um sie vollkommen grundlos erschien, nicht vertreiben. Mein Kopf ist leer, sagte sie. Panikattacken tauchten auf, Angst, sich in ein Flugzeug zu setzten. Die Corona-Einsamkeit setzte ihr endgültig zu. Sie saß viel oder lag, versank in Stille. Sah ihr Kind, Rubina, so jung und schön, schaffte es aber nicht heraus aus dem Kokon, der sie fest umschloss, eine Qual. Die Therapien schlugen mal an, mal nicht, ein Auf und Ab, für jeden. Keine Erleichterung.

Sie schrieb einen letzten Satz auf einen Zettel: Ich hab alles verloren und Euch auch.

Ja, bestimmt. Doch umgekehrt gilt dieser Satz ebenso, in seiner ganzen, tiefen Traurigkeit.

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