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Michael van Gemert

© privat

Nachruf auf Michael van Gemert: Ich bin schön!

Die beste Ware, die er anzubieten hatte, war er selbst. Doch den Kampf gegen die Spuren der Zeit gewinnt ja immer nur die Zeit

Von David Ensikat

Der Blick aus seinem Fenster ist spektakulär, mitten in Berlin, die Stadt da unten, alle Menschen weit entfernt. Die Fenster, die auf seinem Computermonitor geöffnet sind, verheißen Nähe, allerengste Nähe, wenn auch nur für einen Augenblick, eine Nacht vielleicht, ganz selten eine weitere. „Gayromeo“ „Planetromeo“, „Grinder“, so heißen die Internetseiten und Apps für die schnelle Annäherung. Übers Handy kann er die Kontaktbörsen ebenso erreichen, doch auf dem Handy sieht er nicht mehrere zur selben Zeit.

Außerdem ist er selten draußen unterwegs. Michael muss sich nicht hinausbegeben aus seinem Hochhaus, das etwas großspurig „Excelsior“ heißt und sich genau zwischen den Berliner Zentren Ost und West befindet. Im 14. Stock ist seine Wohnung, 33 Quadratmeter, Bad, Küche, Bett, Computer, was braucht man mehr? Im Erdgeschoss befindet sich der „Lidl“, wo es den billigen Wein gibt, der mit Fanta versetzt, gar nicht mal so übel schmeckt.

Den Rest der Welt kann er hochaufgelöst auf seinem riesigen Fernseher betrachten. Ein Youtube-Gang durch Hollywood etwa, der Sunstrip Boulevard in 4k, technisch beeindruckend, aber auch ein bisschen ernüchternd, gar nicht so glamourös, wie man gedacht hätte. Na ja, die Welt da draußen: je größer das Versprechen, desto größer die Enttäuschung.

Ein bisschen Nähe in der Ferne

Und ist es mit den Menschen nicht ganz ähnlich? Verliebst du dich in einen, bist du in Gefahr. Also lässt du das. Michael hat den Dreh raus. Übers Internet nimmt er Kontakt zu Touristen auf, die sind auch froh über ein bisschen Nähe in der Ferne, kommen gern vorbei und gehen wieder. Eine schnelle Nummer, ein schnelles Gefühl und die Gewissheit: Ich kann es. Ich werde begehrt. Ich bin schön. Nicht alt. Unsterblich in diesem Augenblick.

An der Unsterblichkeit muss man arbeiten. Michael hält seinen Körper straff und schlank, er achtet auf Kleidung und Frisur. Er ist ein Meister des „invisible Makeup“, der Kunst, das Unnatürliche natürlich wirken zu lassen. Er trägt Rouge auf, zeichnet die Augenlinien mit Kajal nach, die Wimpern Mascara, bedeckt die kleinen Flecken im Gesicht, die mit den Jahren zahlreicher werden, mit Concealer, alles so zurückhaltend, geschickt, dass niemand sieht, was er getan hat - und wie alt er ist.

Ende 40. Die Männer, die er begehrt, sind höchstens 25. Mit älteren kann er nichts anfangen. „Dann lieber allein“, sagt er. Also hat er in den Dating-Plattformen angegeben, dass er 29 ist. Stünde dort 30, interessierte sich kaum noch einer für ihn, so läuft das Spiel. Er kann es spielen, weil er tatsächlich blendend aussieht. Hat er sich hergerichtet, käme niemand auf sein wahres Alter.

Michael kommt aus Holland, war Verkäufer und hat früh gelernt, dass die beste Ware, die er anzubieten hatte, er selbst war. So viele Männer, die seinen Körper wollten. So viel Bestätigung, du bist schön, begehrt. So viel Geld.

Kreditkarte ohne Limit

Amerika hat es ihm besonders angetan, die Westküste. Schöne Menschen, offen, unkompliziert; Probleme sind Herausforderungen; wenn du Geld hast, kannst du alles haben. In Los Angeles war er länger mit einem Mexikaner zusammen, junger Kerl aus reichem Haus, Kreditkarte ohne Limit. Später, an der Cotes d’Azur, bekam er Geld und Kokain und einen Sportwagen von einem Mann, der deutlich älter war als er. Michael gestand ihm irgendwann, dass er ihn nicht liebte, da war‘s vorbei. Die Ehrlichkeit hat er später, als selbst er ein wenig älter wurde, sehr bereut.

Zurück in Holland lief es nicht mehr so super. Michaels Kreditkarte hatte ein Limit. Als das überschritten war, zog er nach Berlin, wo ihn die Mahnbriefe nicht erreichten. Für die Prostitution, die er „Escort“ nannte, war er zu alt. Natürlich gab es noch Ältere, die ihn begehrten. Hin und wieder konnte er sich für ein paar Hundert Euro auf einen einlassen. Aber sein Leben in der Mini-Wohnung, mit dem Lidl unten war nicht teuer, und es gab andere Jobs. Bei Hotlines hat er gearbeitet, manchmal nur so lange, bis er sich krankmelden konnte, so lange, bis sie ihn kündigten. Dann ging er zur nächsten Hotline.

Er war offen, unkompliziert, er sprach hervorragend Englisch, es war nicht schwer, Jobs zu finden. Und dank der neuen Online-Services war es auch nicht mehr schwer, die jungen Männer zu finden, die er begehrte, die ihm zeigten, dass auch er begehrt wurde, immer noch.

Der Aufwand, die Spuren der Zeit zu verdecken, wurde größer, ebenso sein kosmetisches Geschick. Doch diesen Kampf gewinnt ja stets die Zeit. Spätestens seit er 50 war, geschah es öfter, dass Michael die Tür öffnete und der junge Kerl, der auf der Schwelle stand, ihn anblickte - und kehrt machte.

Harte Schläge, Michael stellte die kraftraubende Männersuche ein. Es blieben Netflix, DisneyPlus, ab und zu ein Porno, und gegen die übrige Leere halfen der Wein und Antidepressiva. Seinen letzten Job hatte er bei TikTok, der Videoplattform. Er saß zuhause vorm Computer, kontrollierte Filmschnipsel und sortierte jene aus, die Ungehöriges zeigten, Zigaretten, etwas zu viel Brust.

Freunde? Die beiden, die er in den letzten Jahren hatte, Ray und Erik, leben nicht mehr in Berlin. Aber es gibt ja WhatsApp. Erik bekam am 12. Juli einen Anruf von Michaels TikTok-Chefin. Michael sei nicht erreichbar. Erik rief die Polizei, die Polizei fand Michael tot in seiner Wohnung.

Weitere Auskunft gibt es nur für Angehörige. In Holland soll es noch eine Cousine geben.

Ray und Erik sagen, dass Michael eigentlich immer gut drauf gewesen sei. Nur mit seinem Diabetes sei er nachlässig umgegangen. Bestimmt war da wieder was mit der Insulinpumpe.

Es gibt einen Film über das „Excelsior“-Haus, ein paar Bewohner, ihren Kampf ums Dasein, um das gute Leben. Ganz am Anfang sitzt Michael da auf seiner Couch, der Monitor mit den Datingseiten vor ihm, auf dem Handy kommt eine Nachricht an, er liest sie vor: „Don’t you wanna see me again?“ Er lächelt und sagt in die Kamera: „It’s really good to be me.“

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