zum Hauptinhalt
Mustafa Akan

© privat

Nachruf auf Mustafa Akan: Der Traum vom Mercedes

In der Presse und im Prozess ging es nur um den Mord und den Mörder. Aber wer war der Taxifahrer, der sein Leben verlor?

Das Grab war zu klein. Die Mutter passte nicht hinein. Also sprang Mustafa ins Loch, ließ sich eine Schaufel geben und grub. Dann ließen sie seine Mutter herab, eingepackt in ein Leichentuch. Er bettete sie auf die Erde und verabschiedete sich ein letztes Mal von ihr. Dem Iman hatte er vorher verordnet, dass dieser die Namen aller ihrer Kinder vorlesen sollte, nicht nur die der Söhne, wie es Tradition ist. Wenn Mustafa auf etwas bestand, ließ er nicht mit sich diskutieren.

Für diesen Nachruf sind seine Schwester, zwei Nichten, zwei Freunde und die Tochter zusammengekommen. Sie wollen von ihrem Mustafa erzählen, so wie er war, weil es beim Gerichtsprozess immer nur um den Mann ging, der ihn getötet hat.

Er war das erste Kind der Familie, das in Deutschland zur Welt kam. Alle waren sich sicher, dass es ein Mädchen werden würden. Die Schwestern kauften bei Woolworth auf der Potsdamer Straße eine rosa Babyjacke. Als sie im Krankenhaus ihre neue Schwester begrüßen wollten, mussten sie feststellen, dass es ein Mustafa war. Die Jacke zogen sie ihm trotzdem an.

Die Eltern arbeiteten von früh bis spät, die größeren Geschwister kümmerten sich um die kleineren. Sobald Mustafa Fahrrad fahren konnte, düste er alleine los, auf den Spielplatz, in die Schule, in die Bibliothek. Bis ihn ein Auto erwischte. Er flog über die Motorhaube, landete auf dem Asphalt. Die Polizisten, die an der Wohnungstür klingelten, wussten nur, dass es einen Unfall gegeben hatte und Mustafa im Krankenhaus war. Weinend, schreiend fuhren sie ins Krankenhaus. Sicher, dass er tot sei. Zehn Tage lag er im Koma.

Schach bei Karstadt

Ein Freund berichtet von einer Situation in der Realschule. Er, der Freund, war der kleinste und schüchternste dort. Ein großer, starker Kerl ärgerte ihn immer. Mustafa sah das, ging zu dem Kleinsten und fragte ihn, wie er heiße, was los sei. „Mustafa hatte Selbstvertrauen und hat mir dadurch den Mut gegeben, für mich einzustehen.“

Seine Freunde nannten ihn Mulle, Mustafa war zu lang. Schlank und groß war Mustafa, hatte schöne, schwarze Locken. Wenn seine Freunde ihn deswegen aufzogen, lachte er einfach mit. Wenn sie sich langweilten, fuhren sie mit dem Bus zu Karstadt nach Steglitz. Ganz oben, in der obersten Etage lagen immer drei, vier Schachspiele. Stunde um Stunde verbrachten sie hier. Als sie älter wurden, schlichen sie sich nachts raus, versuchten in Clubs zu kommen und hatte Angst, dass Mama es mitbekommen und wütend an der Tür warten würde.

Mit 14 trug Mustafa Zeitungen aus und putzte im Interconti. Dann machte er eine Ausbildung als Mechaniker und heuerte bei einer Tankstelle an. Nachtschicht nach Nachtschicht, aber Mustafa fühlte sich wohl, verstand sich gut mit dem Chef. Er arbeitete viel und konnte sich irgendwann seinen Traum erfüllen, einen Mercedes AMG 190 mit Heckspoiler. Mit seinen Freunden cruiste er durch die Stadt, sie fühlten sich so frei.

Jahre später fuhr er damit seine Nichte Başak abends in die Clubs und holte sie dort wieder ab. Sein Bruder, Başaks Vater, war nicht immer eingeweiht. Mit Mustafa konnte Başak über alles reden, ihm stellte sie ihren ersten Freund vor. „Außerdem war es cool, mit dem schwarzen Mercedes vom Club abgeholt zu werden.“ Manchmal brauchte es nur einen Blick, ein Wort und schon lachten die beiden sich tot.

Von Job zu Job

Mustafa war öfter verliebt, aber immer war es kompliziert. Sein Opa wollte helfen, da gab es in der Türkei doch diese Frau, die gut zu ihm passen würde. Mustafa flog hin und stand Filiz gegenüber. Sie verliebten sich, sie heirateten. Als Filiz schwanger wurde, war klar, dass sie eine eigene Wohnung brauchten, da genügte der Tankstellenjob nicht mehr. In München gab es eine Stelle bei der Bahn. Mustafa redete mit seinen Eltern, seinen Geschwistern, alle machten ihm Mut, es zu wagen.

München war nur die erste Station. Von Job zu Job zog er, nach Minden, Berlin, Porta Westfalica und wieder Berlin. Er bildete sich als Schlosser weiter, arbeitete zwischendurch auch mal im Büro, doch da ging er vor Langweile ein. Als Schienenüberprüfer reiste er durchs Land und arbeitete schließlich als Zugdisponent, überwachte viele Züge auf acht Bildschirmen. Stolz war er auf seine Arbeit, für jede neue Position las und lernte er, wollte mehr Verantwortung.

Auf die Tochter folgte noch ein Sohn. Mustafa erklärte ihnen gern die Welt und half, wenn sie ihn brauchten, wenn es um die Ausbildung ging oder später um eine Wohnung. Auch anderen half er. In der U-Bahn ging er dazwischen, als ein Mann eine Frau bedrängte, und holte sich ein blaues Auge. Auf dem Spielplatz kam es zum Streit mit einer großen Familie, die immer größer wurde. Er redete, argumentierte, schimpfte so lange, bis alle wieder abzogen. Wenn jemand aus seiner Familie sauer auf ihn war, lachte er, nahm den Verärgerten in den Arm und lehnte die Stirn an seine.

Im Sommer fuhr er in die Türkei und baute im Heimatdorf der Eltern ein Haus. Hier sollten seine Geschwister zusammen wohnen, wenn sie mal in Rente gingen. In Berlin kaufte er eine Wohnung zu einem guten Preis. Die Vorbesitzer fanden ihn so nett. Zwei Studentinnen wohnen da jetzt, für sie besorgte er die Waschmaschine und einen gebrauchten Staubsauger. Sie sollten sich wohl in seiner Wohnung fühlen.

An einem Abend des 5. April tranken sie gemeinsam Tee, die Schwester hatte gekocht. Ruhig sei Mustafa gewesen. Morgen früh würde er wieder Taxi fahren, einer seiner Nebenjobs. „So viel Energie hatte er, das lag bestimmt am Kaffee, den er von morgens bis abends trank“, sagt die Schwester.

Am 6. April 2023 stand Mustafa mit einem gelben Mercedes in der Taxischlange am Südkreuz. Ein Mann setzte sich in den Wagen, nannte eine Adresse, und Mustafa fuhr los. Darüber, was dann geschah, ging es vor Gericht, ging es in den Zeitungsberichten. Um Mustafa ging es da nicht.

In der Türkei liegt er begraben, neben seiner Mutter, in dem Dorf, wo er das Haus gebaut hat.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false