zum Hauptinhalt
Nikolay Skryl

© privat

Nachruf auf Nikolay Skryl: Ein Gedankengebäude!

In Russland interessierte sich die Mafia für ihn - ein Irrtum. In Deutschland interessierte sich der Kunstmarkt kaum für ihn - auch ein Irrtum

Von David Ensikat

Vielleicht hatten die Mafiosi, die mit ihren Maschinenpistolen in seinem Atelier erschienen, eine ganz richtige Ahnung. Vielleicht war ja hier ein ganz Großer am Werk, bei dem etwas zu holen sein würde. Allerdings noch nicht jetzt. Längst noch nicht.

Sankt Petersburg, Mitte der Neunziger Jahre. Nikolay Skryl war gerade mit seiner Frau Galina von einem Deutschland-Besuch heimgekehrt, ohne die ganzen Bilder, die sie dorthin mitgenommen hatten. Jemand vom Zoll muss das den Mafiosi gesteckt haben. Sie folgerten, dass die Skryls die Werke allesamt verkauft haben und mithin schwerreich sein mussten. Da sollte doch was zu holen sein.

Allerdings hatte das Künstlerpaar nur ein paar der Bilder verkauft, und beileibe nicht zu Preisen, die einem ganz Großen, einem Universalgenie zugestanden hätten. Die meisten Bilder hatten sie in Deutschland zurückgelassen, um sie bei späteren Besuchen ausstellen und womöglich verkaufen zu können.

Nun also stand Nikolay Skryl vor den Männern mit den Maschinenpistolen und hatte kein Geld. Hinter ihm lauter Bilder, deren Farben und Leinwände einiges gekostet haben mochten, aber so, in diesem Zustand, viel Abstraktion, kaum Gegenständliches, die Rahmen ganz und gar unvergoldet – was sollten die Mafiosi damit anfangen? Hätte Nikolay Skryl versucht, ihnen zu erläutern, welchen Wert er in seinen Werken sah, welche Reflektionen sie zu Denkmälern menschlicher Erkenntnis machten, wodurch sie dereinst, wer wusste und wer weiß das schon, auf einem verständigen Kunstmarkt zu angemessen hohen Preisen gehandelt werden würden, hätte der Künstler versucht, die Mafiosi in seine Gedankenwelt einzuführen – sie wären aller Wahrscheinlichkeit nach schulterzuckend abgezogen: Ein Irrer denkt sich was und malt das dann. Bei dem wird nie was zu holen sein.

So einfach ließen sie sich aber nicht vertreiben. Die Sache nahm einen so bedrohlichen Verlauf, dass Nikolai und Galina Skryl immer mehr Zeit im Ausland verbrachten und schließlich, um die Jahrtausendwende, ganz auswanderten.

Raketenmodelle für Moskau

Nach Deutschland! Dort sollte es so anders sein. Niemand kam hier auf die Idee, es bei den Skryls mit reichen Leuten zu tun zu haben. Dafür gab es etliche, die in den Bildern Meisterwerke sahen. Und es gab einige, die mit großer Mühe den Ausführungen von Nikolay Skryl zu folgen versuchten, und selbst wenn sie darin scheiterten – vielleicht auch weil sie scheiterten – den Schluss zogen, es mit einem Genie zu tun zu haben.

Vor dem Blick auf die deutsche Periode aber ein Schritt zurück. Der Vater, Zeichen- und Berufsschulllehrer, war von pragmatischer Natur, die Mutter, Lehrerin für russische Sprache und Literatur, nicht so sehr. Ihr war es wichtiger, wie ein Kühlschrank aussah, als wie man ihn füllte. Ihr Interesse galt weniger Nikolays Interessen als seinem Mittun an der Theatergruppe, die sie leitete.

Er machte mit, noch lieber aber las er. Außerdem überarbeitete er die Bilder seines Vater an jenen Stellen, die er für unvollkommen hielt. Und er baute Raketenmodelle. Als er 13 war, wurde eins davon auf der Allunionsausstellung in Moskau ausgestellt. In der „Prawda“ erschien ein Bericht über das junge Erfindergenie aus Karaganda.

Karaganda liegt in Kasachstan, 3000 Kilometer von Moskau entfernt. Nikolays Großeltern waren in der Stalinzeit hierher deportiert worden. Seine Eltern arrangierten sich mit der Umgebung. Er, das älteste von drei Kindern, wollte fort, gleich nach dem Abitur. Doch die Bewerbung an der Leningrader Kunsthochschule war ohne vorbereitende Kurse ebendort kaum möglich. Die Mutter hatte keine grundsätzlichen Einwände gegen die Kunst; allein mit der Wahl der Gattung war sie nicht einverstanden. Sie liebte doch das Theater - warum drängte es den Jungen dann ins Bildnerische? Der Vater, wie gesagt: Pragmatiker, hatte sowieso ganz andere Vorstellungen.

Also bewarb sich Nikolay ohne jeden Ehrgeiz an der medizinischen Fakultät der Universität von Karaganda, bestand mit Bravour die Aufnahmeprüfung, legte ebenso erfolgreich die abschließenden Prüfungen ab, ein „Geschenk an die Eltern“, wie er betonte, und trat, was sollte er denn tun, eine Stelle an der pädiatrischen Abteilung eines Krankenhauses an.

Aber er wollte doch die Welt verstehen, sie gestalten. Im Krankenhaus verwaltete er den Mangel an Instrumenten, Medikamenten. Ein Philosophieprofessor, bei dem er während seines Medizinstudiums einen Kurs besucht hatte, bot ihm eine Stelle an. Leider an der Universität von Karaganda – was sollte er denn da? Außerdem wollte er aus Philosophie doch Kunst machen!

Begann also ein Kunstfernstudium an einer Moskauer Universität. Und unternahm, wann immer es ihm möglich war, die große Reise in eine der zwei Sehnsuchtsstädte, Moskau, Leningrad.

Eine billige Zigarette, Marke Belomorkanal!

An den 16. April 1984 kann sich Galina Skryl genau erinnern. Sie zählt noch immer die Tage, die seither vergangen sind. Sie lebte in Leningrad, hatte Kunst studiert und arbeitete als Dekorateurin einer Konfektionsfirma. Obgleich sie müde war, folgte sie nach der Arbeit noch der Einladung einer Freundin, die zwei Künstler aus der Provinz zu Besuch hatte. Als sie ankam, lag der eine der beiden auf einer Bank in der Küche und schlief. Er wachte auf, hatte noch gar nichts gesagt, und sie dachte schon: Was für ein Mann! Der andere trug auffällig geschmackvolle Klamotten und rauchte Marlboro. Er interessierte Galina kein bisschen. Nikolay aus Karaganda, der Mann von der Küchenbank, rezitierte ein Gedicht, das er jüngst geschrieben hatte, und bot ihr eine billige Zigarette an, Marke Belomorkanal!

Sie wunderte sich ein wenig. Dieser schöne, kluge Mann war schon 27 und hatte noch keine Frau und keine Kinder? War er vielleicht krank? Erstaunlicherweise nicht. Er schrieb Gedichte und er malte.

Sie trafen sich wieder, sie liefen durch Leningrad, sie sprachen über die Literatur, die Kunst, die Welt, und beim zweiten Spaziergang fragte er sie, ob sie ihn heiraten würde. Nicht, weil er sie für die Frau seines Lebens hielt, sondern weil er nach Leningrad ziehen wollte. Als Mann einer Leningraderin würde er die Genehmigung erhalten.

Sie sagte: Selbstverständlich! Ja! Sie hielt ihn bereits für den Mann ihres Lebens. Und er bald sie für die Frau des seinen.

Ihr erstes gemeinsames Zimmer fanden sie bei einer Dame, die der Monarchie nachtrauerte. Der letzte Zar nämlich, der von den Bolschewiken ermordet worden war, hatte denselben Vornamen getragen wie der neue Untermieter, Nikolay Alexandrowitsch.

Leninbilder und Losungsbanner

Lange wohnten sie dort aber nicht. Sie zogen bei Galinas Eltern ein, das war günstiger. Und der Ort, wo sie schliefen, war ohnehin nicht wichtig. Wichtig war der Ort zum Malen. Den gab es auf ihrer gemeinsamen neuen Arbeitsstelle. In einem metallurgischen Kombinat waren sie für die propagandistische Ausgestaltung zuständig mit eigenem, großzügig ausgestattetem Atelier. Die Leninbilder und Losungsbanner waren schnell hergestellt; die restliche Zeit blieb für die Kunst.

Keine schlechte Zeit für die beiden Skryls. Die Freiheit, die sie brauchten, nahmen sie sich; Freunde gingen aus und ein in ihrem Atelier. Der Kommunismus rundherum war ebenso unwichtig wie die Religion des Westens, Wohlstand.

So blieb es, als ihre Heimat die Religionen wechselte, als das Streben nach Geld und Gütern die Agonie der Zukunftsverheißung ablöste. Leningrad hieß wieder St. Petersburg, niemand brauchte mehr Losungen; dafür mussten die Skryls nun einige ihrer Bilder abtreten. Statt mit Propaganda bezahlten sie nun mit Kunst fürs Obdach.

Es fand sich nämlich ein Gönner, oder sagen wir: ein Geschäfts- und Ehemann. Seine Frau betrieb eine Galerie und durfte sich Bilder bei den Skryls aussuchen, alle zwei Monate holte sie sich zwei. Dafür bezahlte er das Atelier, 400 Quadratmeter in bester Lage. Die Sommermonate durften die Bilderproduzenten in einer schönen Datscha auf dem Land verbringen.

Bilder im Leichenwagen

Auch konnten die Skryls jetzt ihre Kunst in einer Galerie zeigen. Das Auto, mit dem die Galerie die Bilder durch die Stadt transportieren ließ, war ein Leichenwagen. Deutlich öfter als Bilder fuhr er Mordopfer durch die Stadt. Es waren wilde Jahre. Vor der Schutzgeldmafia konnte auch der reiche Gönner seine Künstler nicht beschützen.

Also Deutschland, erst München, dann Berlin. Auch hier gab es Gönner, und es fanden sich immer irgendwelche Ateliers, wenn auch nicht so große. Das Leben war teurer, aber das machte nichts. Wenn jemand ihm beste Zutaten mitbrachte, bewies Nikolay seine Kochkünste, wenn nicht, taten es die Aldi-Dosen. Essen ist wichtig, die Kunst aber auch, und irgendwie gelang es den beiden, von ihrer Kunst zu leben. Wer immer über die Skryls spricht, niemand kann sich vorstellen, dass sie zu etwas anderem imstande gewesen wären.

Es gab Zweifel, ob Nikolays Gedankengebäude vom „kongruenten Universum“, in welchem sowohl die Planck-Konstante wie auch die Nukleotiden in der DNA und die „Riemannsche Vermutung“ über die Verteilung der Primzahlen eine Rolle spielten, ob all das von irgendjemandem je nachvollzogen werden könnte. Es war die Grundlage aller seiner Bilder. Sie waren Illustrationen einer Welterklärung, handwerklich perfekt, manchmal, wenn etwa ein Huhn zwischen Formeln von der Leinwand starrt, lustig anzusehen, manchmal, wenn geometrische Formen angeordnet sind, klassisch modern anmutend. Nun neigen Welterklärer dazu, ihre Erkenntnisse nicht für sich zu behalten. Nikolay erläuterte ausgesprochen gern, was er sich so gedacht hatte. Dass es da ab und an zu Missverständnissen kam, liegt in der Natur der Sache.

„Das Leben der Hühner“ Öl auf Leinwand, 2012
„Das Leben der Hühner“ Öl auf Leinwand, 2012

© Nikolay Skryl / open-museum.org

Vor knapp zehn Jahren veranstaltete ein emeritierter Professor für Ästhetik eine Zusammenkunft anlässlich des 110. Jahrestags des „Bloomsday“, jenes Tages, den James Joyce in seinem „Ulysses“ beschreibt. Ein Gedankengebäude! Selbstverständlich hatte sich auch Nikolay Skryl damit befasst. In neun Bildern hatte er seine Assoziationen festgehalten, die sollten vorgestellt werden, der Künstler sollte sie erläutern. Zunächst jedoch erläuterte der Professor den Künstler. Sehr ausführlich, nicht ganz leicht zu folgen. Endlich übergab er das Wort an den Künstler, welcher der Komplexität halber seine Gedanken auf Russisch vortrug. Die Dolmetscherin gab sich alle Mühe, der Komplexität zu entsprechen, gewiss übersetzte sie die einzelnen Worte richtig. Vom Ulysses kam Nikolay, wie sollte es auch anders sein, nach wenigen Minuten aufs „kongruente Universum“. Erst darin ergab alles andere doch einen Sinn. Der Professor trat von einem Fuß auf den anderen. Recht wahrscheinlich konnte er ebenso wenig folgen wie der Rest des Publikums. Zumal die Dolmetscherin selbst nicht mehr genau verstand, was sie da übersetzte. Als der Professor dann auch noch den Eindruck hatte, dass die Dolmetscherin gar nicht wusste, wovon der Ulysses handelt – ein Irrtum, sie hatte sich ausführlich vorbereitet – beendete er polternd, beleidigt und beleidigend die Veranstaltung und verließ den Saal. Wenn hier einer alle anderen überfordern durfte, dann er!

Dass Nikolays Bilder grandios waren, fanden viele. Was der Künstler damit sagen wollte, ahnten wenige. „Mensch Nikolay, mal doch einfach“, hieß es, was natürlich Quatsch war. Was hätte er denn einfach so malen sollen? Auf die sagenhaften Ulysses-Motive, angelehnt an Homers Odyssee, kommt man doch erst, wenn man sich mit dem Ulysses befasst. Natürlich wünschte sich Nikolay mehr Anerkennung, mehr Verständnis, große Galerien und so weiter. Doch mangelte es ihm ebenso an Verkaufstalent wie den Galeristen am Interesse für die Kongruenz des Universums. Wer wollte es ihm und ihnen verübeln?

Galina Skryl lebt und malt weiter in der Lichtenberger Ladenwohnung, abgrundtief traurig, dass Nikolay nicht mehr mit ihr lebt und malt. Vielleicht war er das Genie, das sie beschreibt. Wenn sie über die Freiheit spricht, die er und sie sich genommen haben, in der Sowjetunion, in Russland und in Deutschland, von ihrer Liebe, 39 Jahre und 100 Tage, dann muss man sagen: Er hatte sehr viel Glück.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false