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Peter Sun

© privat

Nachruf auf Peter Josef Sun: Er sucht und sucht

Er ist formal Chinese. Doch nicht ein einziges Mal in seinem Leben fährt er nach China

Im Baden-Württembergischen Bad Mergentheim verliebt sich eine deutsche Frau in einen chinesischen Mann. Er ist verheiratet. Die Frau wird schwanger, was sie dem Mann verschweigt. Am 25. Mai 1944 bringt die Frau das Kind zur Welt, nennt es mit erstem Vornamen Peter und mit zweitem Josef und gibt es dann beim Roten Kreuz zur Adoption frei. Die Affäre der Eltern dauert nicht lange.

Der chinesische Mann, der 1927, im Alter von 23 Jahren, nach Deutschland gekommen ist, um einerseits dem Bürgerkrieg in China zu entfliehen und andererseits zu studieren, erfährt von dem Kind erst, als ihm jemand, der die deutsche Frau kennt, einen Hinweis gibt. Er entschließt sich, seinen Sohn zu sich zu nehmen, was äußerst schwierig ist, nach zwei Jahren komplizierten Ringens mit den Behörden aber gelingt.

Peter hat jetzt einen Vater. Und eine Stiefmutter, die ihn nicht sonderlich freundlich behandelt; sie weiß ja, wie das Kind zustande gekommen ist. Von seiner leiblichen Mutter kennt Peter einzig den Namen, Maria Meier. Vielleicht, das vermutet er wegen seines zweiten Namens Josef, ist sie sehr katholisch. Sonst weiß er nichts. Er besitzt nicht mal ein Foto von ihr.

1949, nach dem Ende der Berlin-Blockade, ziehen Peter und sein Vater, der inzwischen geschieden ist, nach Berlin. Peter geht in diesen kargen Zeiten ab und an zu einer Essensausgabenstelle. Die Frau, die dort arbeitet, Erna, findet den Kleinen so entzückend, dass sie ihm manchmal eine Extraportion auf den Teller tut. Nach einer Weile sagt Peter zu seinem Vater, beflügelt von dieser fürsorglichen Geste, von der Erwartung mütterlicher Wärme, noch nicht wissend, dass auf die Liebe fast immer der Schmerz folgt: Ich habe eine neue Mama gefunden. Der Vater schaut sich die Frau genauer an, sie plaudern, sie kommen sich näher, es hat geklappt, Peter hat tatsächlich eine neue Mutter gefunden.

Die Familie wächst, Erna und Peters Vater bekommen noch drei Söhne und Peter also drei Halbbrüder. Sie wohnen jetzt in Friedenau.

Kein Vater mehr, keine Mutter, keine Stiefmutter

Am 24. Mai 1957, einen Tag vor Peters 13. Geburtstag, stirbt sein Vater. Irgendetwas mit der Lunge, er weiß es nicht genau, jedenfalls hat sein Vater von früh bis spät geraucht, und auch er, Peter, wird rauchen, ein bisschen weniger, aber doch viel.

Peter beginnt nach der Schule eine Ausbildung zum Koch im „Shing Lai“, einem chinesischen Restaurant am Kottbusser Tor, das einem Freund des Vaters gehört. Und er muss in ein Heim, was das Jugendamt veranlasst, da Erna nicht das Sorgerecht für ihn hat. Kein Vater mehr, keine Mutter, keine Stiefmutter.

Da ein Kind damals automatisch die Staatsbürgerschaft des Vaters erhielt, ist Peter formal Chinese. Doch nicht ein einziges Mal in seinem Leben fährt er nach China. Er arbeitet in verschiedenen chinesischen Restaurants, er beherrscht wenige Worte Küchenchinesisch, in Pinyin, der phonetischen Umschrift: mifàn - gekochter Reis, niúròu - Rindfleisch, yú - Fisch.

Und er trifft Nada in einem der Restaurants. Sie hilft dort in der Küche. Die beiden heiraten, sie bekommen zwei Söhne und eine Tochter, sie ziehen nach Steglitz.

Die Arbeit im Restaurant ist ein Knochenjob, Sechstagewoche, immer von zwölf Uhr mittags bis Mitternacht, mittwochs kann er zu Hause bleiben. Er sieht die Kinder selten, am Vormittag gehen sie in den Kindergarten oder in die Schule, wenn er nachhause kommt, liegen sie längst im Bett.

Als die Söhne noch ganz klein sind, fährt er mit ihnen nach Jugoslawien, sonst verreist die Familie nie, abgesehen von ein paar Ausflügen zu Ernas Bruder, der in Babelsberg im Osten lebt. Die DDR-Grenzer starren jedes Mal lange auf Peters chinesischen Pass, bevor sie ihn durchwinken. An einem Dezembertag entschließt er sich, Ost-Berlin ein bisschen zu erkunden und schlendert zwei, drei Stunden über den Weihnachtsmarkt am Alexanderplatz.

Das Schnippeln, Braten und Frittieren hat er satt

Manchmal bringt er aus dem Chinarestaurant in der Uhlandstraße, wo er jetzt arbeitet, übrig gebliebenes Essen mit nach Hause, an Festtagen kocht Nada für die Familie sauer-scharfe Suppe, Peter steht neben ihr und erklärt jeden Schritt.

Anfang der 90er steigen die Gewerbemieten, das Restaurant zieht um und wird verkleinert. Peter erhält seine Kündigung. Letztlich hat er das Schnippeln und Braten und Frittieren auch satt. Über Nadas Vermittlung fängt er dann doch wieder an.

1998, Peter ist 54, stürzt er auf einem Bahnsteig. Er liegt lange im Krankenhaus, die Ärzte sind nicht sicher, ob er überleben wird. Er schafft es, arbeitet noch ein wenig weiter und wird bald als erwerbsunfähig eingestuft. Mit 60 geht er in Rente. Er besucht jetzt regelmäßig Ernas Bruder oder setzt sich in den Zug, fährt nach Frankfurt an der Oder und läuft über die Stadtbrücke nach Słubice, um sich mit Zigaretten einzudecken.

Er kauft sich ein BVG-Abo für Senioren, steigt in Steglitz ein und irgendwo wieder aus, spaziert durchs Brandenburger Tor und durch die Gegend um den neuen Hauptbahnhof. Er guckt Fußball, vor allem die Spiele der Deutschen Nationalmannschaft. Er liebt alte Hollywood-Schinken, „Ben Hur“, „Die zehn Gebote“ und Filme, in denen Asteroiden auf die Erde knallen. Er schaut sich Dokumentationen über die DDR an, liest Bücher über Honecker und Gorbatschow, über Mao und Deng Xiaoping und Zhou Enlai.

Und er sucht seine deutsche Mutter. Sucht und sucht, vor der Wende, nach der Wende, lebenslang. Er fragt sich: Warum sucht sie ihn nicht? Oder hat sie es möglicherweise doch versucht und ihn nur nicht gefunden?

Der Schmerz sitzt tief. Er vergräbt sich darin, spricht nicht darüber. Was heilt den Schmerz? Die Schlauberger behaupten, die Zeit. Aber das stimmt nicht.

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