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Rainer Kranzusch

© privat

Nachruf auf Rainer Kranzusch: Hier musste es gesitteter zugehen!

Ein freundlicher Mensch war er und ein freundlicher Chef. Als er selbst einen Chef bekam, der ganz anders war als er, wurde es schwierig

Das soll ein Anwalt sein?, fragte sich Nicole, als sie Rainer kennen lernte, den neuen Freund ihrer Mutter. Rainer trug eine Bundfaltenhose und einen Pullover mit sehr farbenfrohem Muster. Was Nicole nicht wusste: Wenn Rainer zu seiner Arbeit fuhr, eine große Bundesbehörde, rasierte er sich ordentlich, trug ein gebügeltes Hemd, Krawatte und Jackett. Als Chef musste er was hermachen. Erst war er ein kleiner Chef, da hatte er gerade einmal 200 Leute unter sich, dann wurde er ein großer, da waren es 2000.

Für eine Behörde damals war seine Art, Chef zu sein, eher ungewöhnlich. Als er anfing, krempelte er nicht alles von jetzt auf gleich nach links. Tat nicht so, alles wisse er alles besser. Er schaute sich in Ruhe die Abläufe an, redete mit allen seinen Leuten, egal ob sie in einer hohen Gehaltsstufe waren oder in einer niedrigen. Auch den Pförtner kannte er mit Namen und brachte ihm Oster- und Weihnachtsschokolade mit. Und er nahm jede Wortmeldung ernst, egal von wem.

Eine neue Mitarbeiterin fiel fast vom Stuhl, als sie ihm ihre Arbeitsergebnisse zugesandt hatte und von ihm tatsächlich eine Antwortmail kam, in der er sich auch noch bedankte. Mussten sie auf Dienstreise holte er seine Mitarbeiter von zuhause ab und brachte sie auch dorthin wieder zurück. Er brüllte nicht, er machte niemanden nieder, trug keine Intrigen aus. Rainer war ein freundlicher Mensch und ein freundlicher Chef.

Ellbogen raus, rein in die Schlacht, so war er nicht

Vielleicht war er für diese Position zu freundlich. Denn wenn die Solls mal nicht erfüllt waren, musste er die Verantwortung übernehmen, und Kritik prallte nicht so einfach von ihm ab. Ellbogen raus, rein in die Schlacht, so war Rainer nicht. Dafür war er ordentlich, organisiert: Zu jeder Sitzung brachte er eine eigens dafür angelegte Arbeitsmappe mit, auf der er Datum und Uhrzeit notiert hatte. Er führte To-do-Listen, die er Punkt für Punkt abarbeite.

Sein Vater war lieb, hatte etwas von Heinz Rühmann. Über das, was er im Krieg erlebt hatte, sprach er nie. Einmal setzte er an und brach nach dem ersten Satz in Tränen aus. Die Mutter war streng und kalt. Wenn Rainer etwas angestellt hatte, musste er sich in die Ecke stellen, manchmal einen halben Tag. Weine nicht!, sagte sie zu ihm, und Rainer weinte nicht. Bloß nicht umfallen, sagte er sich immer wieder. Sich gegen die Mutter aufzulehnen war unmöglich, für den Sohn wie für den Vater.

Sie wohnten in einem Laubenhäuschen in der Kolonie „Zukunft“ in Lichterfelde, notgedrungen. Wohnungen waren knapp im zerstörten Berlin. Immerhin gab es Strom und Wasser. Von der Kolonie zogen sie in die Carstennstraße, Rainer kam von der Grundschule aufs Goethegymnasium. Dort entschied er sich für den naturwissenschaftlichen Zweig. Für seine Freunde war er der lustige Rainer, mit dem man allen möglichen Schabernack treiben konnte. Einmal manipulierten sie die Schlösser zum Physikraum, um dann einzudringen und sich den Versuchsaufbau für die nächste Klassenarbeit anzuschauen. Geholfen hat es nicht. Zuhause gehorchte er und ging sonntags brav in die katholische Kirche. Er sagte später, dass er schon als Kind an Depressionen erkrankt sein musste.

Seinen ersten und einzigen Akt der Rebellion beging Rainer mit 21: Er trat endlich aus der Kirche aus. Das hatte er sich lange vorgenommen.

Er studierte Jura an der Freien Universität, bestand sämtliche Prüfungen, während die anderen demonstrierten, debattierten, Drogen konsumierten und freie Liebe praktizierten. Rainer heiratete. 21 war er da und über beide Ohren verliebt.

Von ihm aus hätte es ewig so weiter gehen können. Seine Frau aber beendete die Ehe nach ein paar Jahren. Sie wollte noch etwas mehr erleben. Bei der zweiten Frau war es andersrum. Hier war sie es, die über beide Ohren verliebt war, und Rainer der, der sich irgendwann verabschiedete.

Zehn Jahre war Rainer Anwalt, Strafverteidiger. Vor Gericht stritt er für kleine und große Ganoven. Doch irgendwie lag ihm das nicht: im Gefängnis Mandanten treffen, die schwer einzuschätzen waren, sich mit manchen streiten, sich durchsetzen müssen, für Menschen, die offensichtlich ein Verbrechen begangen hatten, das bestmögliche Urteil herausschlagen. Und da gab es die große Behörde, die immer auf der Suche nach Juristen war. Hier musste es gesitteter zugehen!

... und sprach es nie an

1994 lernte er sie auf einer Kur kennen, fünf Jahre älter, sehr anders als er, lebendig, die Blicke auf sich ziehend. Mit ihr gab es etwas zu erleben. Aus Köln zog sie zu ihm in seine Zehlendorfer Wohnung, 4-Zimmer, Stuck, Parkett, immer sauber, aufgeräumt. Nach vier Jahren heirateten sie, und er trug sie über die Türschwelle, des neuen gemeinsamen Hauses. Sie reisten viel, Rainer liebte die Toscana, schwärmte für italienisches Essen, dabei hatte er die Angewohnheit jedes Gericht mit viel zu viel Salz zu überstreuen.

„Wir hatten eine gute Zeit“, sagte er über diese Jahre. Die Tochter seiner neuen Frau wurde seine Tochter, der er Berlin zeigte, der er durchs Studium half, für die er immer da war. Überhaupt war er für alle da, half Freunden und Verwandten in juristischen Fragen, lieh Nachbarn sein Auto, verlieh Geld. Er führte Buch darüber, wusste, wer nicht zurückgezahlt hatte und sprach es nie an.

Auch Rainer hatte einen Chef, und als dieser wechselte, bekam er einen neuen, der so ziemlich das Gegenteil von dem zu sein schien, was Rainer verkörperte. Rainer litt, versuchte standzuhalten, arbeitete immer mehr, zwölf, dreizehn Stunden am Tag. Am Ende litt Rainer unter Verfolgungsängsten, hatte Alpträume, seine Depression kam wieder. 2013 zog er den Schlussstrich und ging in Pension. Zum Abschied kamen viele seiner Kollegen.

Rainer spielte Skat, fotografierte, traf sich mit seinen alten Schulkameraden, reiste, genoss die freie Zeit, so gut es ging. Doch schon 2015 erkrankte er an COPD, die Depressionen nahmen zu. Oft lag er auf der Couch in seinem Wohnzimmer, in seiner Nähe eine Katze oder ein Hund, die gerne bei ihm waren. Seine Stieftochter begleitete ihn zu den Ärzten. Das Licht aus seinen Augen entschwand langsam. Rainer gab sich auf.

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