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Reinhard Gille

© privat

Nachruf auf Reinhard Gille: Zu feinsinnig, zu sensibel

Als eine Eltern starben, war er 40. Konnte jetzt sein eigenes Leben beginnen?

Reinhard war neu in der Klasse und so anders: Nie trug er Jeans oder T-Shirts, sondern immer Jackett und Tuchhose. Auch sagte er kaum ein Wort, war ruhig und zurückhaltend. Altmodisch wirkte er, konservativ irgendwie. Und: Er war älter als seine Mitschüler der elften Klasse an der Goethe Schule in Lichterfelde, ganze drei Jahre älter. Als Jugendlicher hatte Reinhard jahrelang im Krankenhaus gelegen, sein Herz war krank. Deswegen kam er nicht mit auf Klassenfahrt und nahm auch nicht am Sportunterricht teil.

Christian und Reinhard hatten einen gemeinsamen Schulweg. Sie redeten, wurden Freunde. Das war an und für sich schon etwas Besonderes, denn mit den meisten konnte Reinhard einfach nichts anfangen, mit all den lauten, bolzigen, draufgängerischen Typen zum Beispiel. Nein, viele Freunde hatte Reinhard nicht. Zwei, um genau zu sein: Christian war der eine, und dann war da noch eine Beate, auch aus der Schule.

Reinhard lebte bei seinen ziemlich alten Eltern in einer noch viel älteren Gründerzeitvilla. Sein Vater war Richter, unter den Nazis war er das auch schon gewesen. Zehn Jahre hatte er in russischer Kriegsgefangenschaft verbracht. Und dann war er wieder da, ein Mann, den Reinhard nie gesehen hatte, von nun an sein Vater. Außerdem waren da noch drei Geschwister, zehn und zwölf Jahre älter.

„Den Nietzsche musst du gelesen haben“

Reinhard malte, interessierte sich für Kunst und klassische Musik, las philosophische Bücher. „Den Nietzsche musst du gelesen haben“, sagte er zu Christian. „Ist bestimmt gut“, sagte Christian dann, „aber ich verstehe so was einfach nicht.“ Reinhard verstand so was. Einen alten Käfer hatte er, darin ein Kassettendeck. Manchmal saßen Christian und er einfach nur da und hörten Beethoven. „Hör ganz genau hin“, sagt Reinhard.

Trotz all der Kultur, probierte er es erstmal mit Jura. Wollte er seinen Vater beeindrucken, der inzwischen Bundesrichter geworden war? Christian erinnert sich, wie er Reinhard besuchte, wie da all die juristischen Bücher lagen, fast jede Zeile in grün, rot, gelb markiert. Es wirkte nicht sehr systematisch. Nach ein paar Jahren gab Reinhard auf. Unklar, ob er irgendeine Prüfung absolviert hatte. Etwas anderes probierte er nicht. „Er war zu feinsinnig, zu sensibel für diese Welt“, vermutet Christian, der selber Lehrer wurde. Sprach er Reinhard mal auf ein anderes Studium an oder auf eine mögliche Arbeit, wurde der rot im Gesicht. Doch er sagte nichts.

Reinhard führte jetzt den Haushalt seiner Eltern, die inzwischen über 70 waren. Er kümmerte sich um den Einkauf, mähte den Rasen, fuhr die Eltern zum Arzt. Aus der Abhängigkeit kam er nicht heraus, war auf ihr Geld angewiesen, war selbst nicht einmal krankenversichert.

Erst kümmerte sich Reinhard um die Eltern, dann pflegte er sie, mit allem drum und dran. Jahrelang. Ein Pflegeheim kam nicht infrage. „Wenn das jeder machen würde, dann würde das ganze System zusammenbrechen“, erklärte er Christian einmal.

Manchmal übernahm einer seiner Geschwister, dann fuhren Reinhard und Christian in die Alpen, wanderten von Hütte zu Hütte. Hier übernahm Reinhard die Führung. Entschied, welche Wanderschuhe getragen werden mussten, wo es lang ging und wo sie übernachten. Die Alpen waren seine Welt, er war im Alpenverein, war hier schon oft mit seinen Eltern unterwegs gewesen. Es waren schwerelose, schöne Wochen ohne Sorgen.

Eine einzige Frau gab es in seinem Leben. Jahrzehnte älter war sie, lebte in einer Einliegerwohnung im Haus der Eltern. Auch um sie kümmerte er sich, nachdem sie einen Autounfall hatte, nachdem sie anfing zu trinken. Christian fand es unfair, dass sie so grob und undankbar mit Reinhard umging. Er verstand auch nicht, dass Reinhard sich nicht löste, nicht einmal auf den Tisch haute. „So war er nicht. Er vermied Konflikte. Streiten konnte man sich nicht mit ihm. Er hatte kaum Selbstvertrauen.”

Erst starb Reinhards Vater, dann erkrankte seine Mutter an Krebs. Er wusch und fütterte sie, tat alles für sie, bis auch sie starb. Anfang der 90er war das. Reinhard war Mitte 40, hatte etwas Geld geerbt, würde er jetzt sein Leben in die Hand nehmen?

Reinhard zog weg aus Berlin, zu seiner Schwester und ihrer Familie. Die Eltern hatten es ihr auferlegt, Reinhard bei sich aufzunehmen. Sie hatten wohl geahnt, dass er alleine nicht zurecht käme.

Sonntags war sein großer Tag

Hier lebte er für Jahrzehnte in einem kleinen Zimmer, in dem die Heizung nicht ging. Morgens machte er sich seinen Tee auf dem Gaskocher mit der Alu-Campingkanne. Um zehn rief er Christian an. Dann las er, schaute DVDs. Um 15 Uhr trank er ein halbes Bier, legte sich noch einmal schlafen. Um 18 Uhr ging er zu Lidl, etwas fürs Abendessen kaufen.

Sonntags war sein großer Tag: Da trug Reinhard die „Welt am Sonntag“ aus, 20 bis 30 Exemplare. Einmal im Monat kassierte er die Abogebühren. Dann klingelte er, wechselte ein paar Worte, manchmal wurde ein richtiges Gespräch daraus. Das war wichtig, half gegen die Einsamkeit, gab Struktur.

So oft es ging, fuhr Reinhard nach Berlin und kümmerte sich um das Grab seiner Eltern. Er besuchte auch Christian, doch bei ihm übernachten wollte er nicht; nicht einmal die Toilette wollte er dort benutzen. Bloß nicht zur Last fallen. Lieber stellte er spät abends sein Zelt in einem Park auf und trank zum Einschlafen seinen Mümmelmann.

Vielleicht, so überlegt Christian, war Reinhards Leben traurig, sicher war es skurril. Doch: „Ich vermisse ihn. Die Gespräche mit ihm waren besonders. Er hat mich zum Nachdenken gebracht.“ Dann zeigt Christian auf Fotos und Bilder in der Wohnung, holt Bücher heraus, die ihm Reinhard geschenkt hat. „Geschmack hatte er, aber für diese Welt war er nicht geschaffen.“

An einem Freitag im März rief Reinhard nicht an. Als Christian es irgendwann am Nachmittag versuchte, ging niemand ans Telefon. Erst am Sonntag wurde der Hörer abgehoben. Eine andere Stimme. Er war nicht Zeitungen austragen, da habe man sich gewundert und habe nachgeschaut. Da lag er.

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