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Rüdiger Koch

© privat

Nachruf auf Rüdiger Koch: Höfische Feste

Letztlich vereint die Riesenparty und Rotkäppchen in einer Pappkulisse doch etwas Entscheidendes

Sitzt doch nicht den ganzen Tag nur rum, macht auch mal was Kulturelles!, sagen die Mütter zu ihren Söhnen. Und die zwei, 13 und 15 Jahre alt? Sie stehen auf und gehen tatsächlich in ein Museum!

An einem Januartag 1983 gehen sie ins Stadtmuseum zu Kiel, sehen dort Papiertheater und sind auf der Stelle fasziniert. Sie laufen wieder nach Hause und schreiben ihr erstes Stück, „Der Gnom“, ein Märchen: Die Tochter eines Burgvogtes wird von einem Gnom namens Invisius entführt, ein Bauernsohn, der Max heißt, befreit die Schöne. Dann folgt die Umsetzung. Die beiden, Rüdiger ist der 15-Jährige, schneiden Figuren aus, bauen eine Bühne, proben. Am 4. April 1983 findet die Premiere vor der versammelten Familie im Wohnzimmer statt.

Das Wort „Papiertheater“ kam erst in den 60ern auf, obgleich die Darstellungsform, ein kleines Bühnenbild aus Pappe, Figuren aus Papier an Stäben, viel älter ist. Bürgerliche Familien des 19. Jahrhunderts betrachteten sie als Bildungsvehikel und schenkten die Bühnen ihren empfindsamen Zöglingen. Thomas Manns „Bajazzo“, zum Beispiel, schloss sich in sein Zimmer ein und brachte Musikdramen zur Aufführung, gab, in einer Person, den Theaterdirektor, den Kapellmeister, Orchestermusiker, den Beleuchter, die mitwirkenden Künstler und selbst das Publikum.

Man nimmt alles allein in die Hand, so auch Rüdiger in seinem Theater „Invisius“, mit wenigen Ausnahmen. Einige Jahre spielt er mit Dorett, seiner Frau, die er, als sie 20 ist, auf einer Papiertheatertournee im Ostseebad Zingst kennenlernt, und jetzt, am Anfang, mit seinem Freund.

Wie zu Thomas Manns Zeiten

Die beiden besuchen in Kiel die Aufführung eines erwachsenen Papiertheaterspielers. Er arbeitet mit Elektrizität! Für den „Gnom“ hatten sie noch, wie zu Thomas Manns Zeiten, Kerzen aufgestellt. Sie kramen ihre alten LEGO-Kästen hervor, bauen Halterungen für die Lampen. Sie drücken energisch in schnellem Rhythmus auf die Lichtschalter, und endlich blitzt es im Reich des Invisius.

Rüdiger lässt unzeitgemäße Papierpuppen tanzen, und gleichzeitig ist er, was die Technik betrifft, immer etwas schneller als die Leute um ihn herum. Hat bereits einen CD-Player, als sich andere noch im Kassettenbandsalat verheddern. Besitzt einen Macintosh, während Ältere das Wort Apple einzig mit der Frucht in Zusammenhang bringen.

So fließen dann auch das Künstlerische und das Technische in seiner Studienwahl zusammen: 1987 schreibt er sich für Theater- und Veranstaltungstechnik ein.

Die erste Zeit in Berlin ist die einzige, in der er kaum Theater spielt, weil er in einer ofengeheizten Wohnung lebt und befürchtet, die rußige Luft könne dem Papier schaden. Doch nach dem Studium legt er wieder richtig los, reist mit Dorett durch die Gegend, gibt bis zu 160 Vorstellungen im Jahr. Im Jahr 2000 wird Rasmus geboren, Rüdiger soll 2001 ein Jahr Erziehungsurlaub nehmen.

Aber die Bühnen, die er bespielt, werden größer. Er bekommt eine Stelle als technischer Leiter an der Schaubude in der Greifswalder Straße. Eine Weile darauf, sein zweiter Sohn Gustav kommt zur Welt, wird er technischer Leiter der „Kulturprojekte Berlin“, die kulturelle Großereignisse konzipiert. Die „Lange Nacht der Museen“. Die gigantischen Dominosteine zum 20-jährigen Mauerfalljubiläum, die nach und nach entlang der ehemaligen Grenze fallen. Die tausenden beleuchteten Ballons entlang des Mauerstreifens zum 25. Jahrestag.

Für Leute, die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld

Wieder einige Zeit später, sein dritter Sohn Fiete ist auf dem Weg, kümmert er sich freiberuflich um Brandschutz und Technik bei einer Firma für Veranstaltungsdesign, steigt in die Firma ein und wird Geschäftsführer. Sie bauen das Drumherum für den roten Teppich der Berlinale, die VIP-Lounge für den DFB, die Dekoration für den Bundespresseball, die Ausstattung für Formel-E-Rennen in Paris, Rom und Monaco. Höfische Feste des 21. Jahrhunderts, wie er sagt. Oder: Feste für Leute, die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld.

Doch letztlich, fügt er hinzu, vereint die Riesenparty und Rotkäppchen in einer Pappkulisse doch etwas Entscheidendes: Immer geht der Vorhang auf, immer beginnt die Vorstellung, immer geht der Vorhang wieder zu.

Es ist erstaunlich, wie sehr die Leute das analoge Rotkäppchen lieben, Kinder und Erwachsene. Wobei er für letztere auch eigene Stücke aufführt, auf hoch technisierten Bühnen, mit Toneffekten, Nebelmaschine, Drehmechanismus und LED-Leuchten, „Der Freischütz“, „Dracula“, „Biedermann und die Brandstifter“. Das Altmodische der Rotkäppchenaufführung erinnert die Menschen an eine Zeit, die sie nie erlebt haben, nach der sie sich paradoxerweise dennoch sehnen. Zudem ist dieses Bühnenbild in nur einer Viertelstunde aufgebaut.

Auf Workshops, die Rüdiger auch noch organisiert, können die Kinder mitmachen, die Teile auspacken und zusammenstecken. Dabei nimmt er die Kinder überaus ernst. Hält eins den vorderen Teil der Bühne in der Hand, sagt er, ja, das ist das Proszenium, und die kleinen Köpfe nicken kurz und einvernehmlich.

Er legt Wert auf die Grimmsche Fassung der Märchen, bloß keine niedliche Verharmlosung. Die Texte sind wichtig, er spricht sie alle selbst, was selten ist, die meisten anderen spielen die Stimmen vom Band ein.

In Dresden tritt er in einem Kaufhaus auf und plötzlich hört das Gedränge und Geschiebe auf und alle schauen still auf seine Kunst. In der Pandemiezeit gibt er Vorstellungen auf seiner Terrasse, verteilt in den hintersten Reihen Operngläser. Es sind viele gekommen.

2021 zieht er sich aus der Geschäftsführung der Firma zurück. Anfang 2023 hat er Magenschmerzen. Am 3. April wird ein Magentumor gefunden. Am 4. April ist sein 40-jähriges Bühnenjubiläum. Er liegt in der Charité. Eine Chemotherapie, dann eine Operation, dann wieder eine Chemo. Eigentlich, sagen die Ärzte, sieht es gut aus. Sie irren sich.

Im Papiertheatermuseum Hanau, das Rüdiger mitgegründet hat, stehen all die Dinge, die er für eine Ausstellung zusammengetragen hat, schon in den Vitrinen.

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