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Rudolph Lea

© privat

Nachruf auf Rudolph Lea: Er konnte staunen, aber nicht hassen

Sechsmal ist er über den Atlantik gefahren, das erste Mal war die Flucht ins amerikanische Exil

Sein Bruder Heinz war der Klügere, Rudi der Glücklichere. Beide verdankten ihr Überleben der Umsicht des Vaters, der sie mit der ersten Gruppe jüdischer Flüchtlingskinder ins amerikanische Exil schickte. Seit dieser Überfahrt liebte Rudi Schiffe, große Schiffe. Sie gaben ihm ein Gefühl der Geborgenheit. Sechsmal überquerte er an Bord eines Ozeandampfers den Atlantik, stets fand die Reise ein gutes Ende, wie er in seiner Lebensgeschichte „My Crossings“ zu seiner eigenen Verblüffung bilanziert.

Rudis Vater, Waldemar Liachowsky, war ein berühmter Pianist, seine Mutter eine gefragte Konzertsängerin. Das Leben in Berlin konnte nicht glücklicher sein in den 20er Jahren, auch wenn die beiden Söhne die musikalischen Erwartungen des Vaters nicht ganz zu erfüllen vermochten. Vor allem Rudi war als Zuhörer viel besser, denn als Virtuose. Unvermittelt das Unglück der 30er. Die Mutter starb mit Beginn des neuen Jahrzehnts. Hitler wurde zum Reichskanzler ernannt, erhielt durch das Ermächtigungsgesetz diktatorische Macht, was den Vater umgehend handeln ließ. Er suchte ein neues Zuhause für seine Söhne, gewöhnte ihre Ohren an die amerikanische Musik, insbesondere an die Nationalhymne „Star-Spangled Banner“, und schickte sie schließlich im November 1934 zu einer Witwe in Philadelphia, die wie selbstverständlich zur Mutter der beiden wurde, und später auch noch den Vater heiratete.

Rudi fühlte sich schnell heimisch, und durch und durch als Amerikaner. Kaum dass er offiziell eingebürgert war, wollte er wie sein Bruder in den Krieg gegen Hitler-Deutschland ziehen. Heinz, nunmehr Henry, kam zu den legendären „Ritchie-Boys“, einer Spezialeinheit des Nachrichtendienstes, er verhörte Kriegsgefangene und wurde Dolmetscher bei den Nürnberger Prozessen, was ihm lebenslang das Gemüt verdüsterte. Die gehörten Gräuel waren mit dem Verstand nicht zu begreifen. Rudi hingegen kam zur Artillerie, bestückte Mörser mit Granaten und hatte Glück, in keine der großen Schlachten des letzten Kriegswinters zu geraten.

Erstaunlich, wie blitzschnell die Deutschen sich selbst entnazifizierten

Tapfer an seiner Seite war Topsy, ein Straßenköter, den alle Vorgesetzten beharrlich übersahen. Rudi war bei der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau dabei, worüber er, wenn überhaupt, nur in Andeutungen sprach. Er erreichte am Tag der deutschen Kapitulation den Obersalzberg, Hitlers alpinen Kommandostand, und fungierte in den ersten Friedensmonaten als Dolmetscher bei der Quartiersuche. Wobei es ihm zuweilen die Sprache verschlug, wie blitzschnell die Deutschen sich selbst entnazifizierten. Rudi konnte staunen, aber nicht hassen.

Und er lernte für sein Leben gern, also wurde er, zurück in Amerika, Lehrer. Doch sein Herz hing in einer seltsamen Melange von Fernweh und Heimweh an Deutschland. Er kehrte zurück, zunächst 1958 für ein Jahr an eine Schule in Mönchengladbach, dann 1966 für vier Jahre als amerikanischer Schulleiter an die neu gegründete „John F. Kennedy Schule“ in West-Berlin. Seine Frau Ruth kam mit ihm und seine beiden Söhne. Eine Tochter kam 1968 noch hinzu, ein Waisenkind, adoptiert aus Vietnam, weil Ruth und Rudi das Tun der Amerikaner dort verabscheuten.

In der „Kennedy Schule“ wurde vorgelebt, wie Völkerverständigung gelingen kann. Ganz einfach nämlich, wenn alle freundlich miteinander umgehen und die Sprache der anderen sprechen. Mit Rudi war das Lernen mehr als nur Pauken, es war Zusammensein im Dialog. Was sich schon an der Körperhaltung zeigte. Da stand kein Rohrstockpädagoge mit steifem Rückgrat dozierend vor der Klasse. Rudi saß lässig auf der Kante des Schreibtischs, ließ ein Bein baumeln und suchte das Gespräch. Denn obwohl seine Schüler noch viel mehr zu lernen hatten als er, so konnte er von ihnen erfahren, was es heißt, die richtigen Fragen zu stellen.

Nicht wenige seiner Schüler werden ihn vergöttert haben, aber nur eine seiner Schülerinnen hat sich so in ihn verliebt, dass ihr das Unmögliche gelang: Es ihn nicht spüren zu lassen. So hoffte sie zumindest. Und er ließ sich nie anmerken, ob er ihre Gefühle in ihrer ganzen Tiefe wahrgenommen hatte. Ihr Vorname: Ruth, wie der seiner Frau.

Nach seiner Rückkehr in die USA unterrichtete Rudi dort wieder an der High School, auch wenn der Unterricht nun mehr Routine als Herausforderung bot. Nahezu Jahr für Jahr kehrte die Familie nach Europa zurück und verbrachte die Sommerferien in der Dordogne, wo sie ein Haus gekauft hatten, dessen Türen immer weit offenstanden, für die alten Freunde, und die neuen, und für die all die schrulligen Bohemiens und Lebenskünstler vor Ort.

Nach 62 Jahren des Zusammenseins starb seine Frau Ruth. Rudi suchte sich zu trösten, schrieb Bücher, unterrichtete in Online-Kursen, hielt in seiner Seniorenresidenz Vorträge über berühmte Komponisten. Und fühlte sich doch allein. Er suchte Trost, ein Zuhause für seine Gefühle, und so führte sein Weg zurück nach Berlin, wo er die Freunde aus der Kennedy-Schule wiedertraf.

Und seine ehemalige Schülerin Ruth, deren Herz noch immer ihm gehörte. Beide heirateten 2018 in Florida und ließen sich dann noch einmal von den engen Freunden der Schule, ehemaligen Klassenkameraden wie Lehrern, in Ruths Berliner Zuhause feiern. Die Gratulanten trafen ein mit roten Herzluftballons im Schlepptau, einer Hochzeitstorte in den Händen und der inoffiziellen Schulhymne auf den Lippen: „All You Need Is Love“. Die transatlantische Liebe wurde unterbrochen durch Corona, aber sie hielt stand, auch wenn sich die beiden drei Jahre nicht treffen konnten.

Rudi erzählte sein Leben immer als Glücksgeschichte, „my saga of good luck“, und das Glück stand ihm bei bis zuletzt, was seltsamerweise nie den Neid der anderen weckte. Denn er war einer der seltenen Menschen, in deren Gegenwart man gesteigerte Freude auch an sich selbst empfindet.

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