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Stanford Chipu Moagi

© privat

Nachruf auf Stanford Chipu Moagi: Keine Chance für Helden

Mit 20 ging er ins Exil und lernte schießen. Mit 30 konnte er sich entscheiden, wo es weitergehen sollte: USA oder DDR

Von David Ensikat

Ein Vormittag im Spätsommer, der evangelische Friedhof auf einer Halbinsel in der Spree, am Ufer Weiden, unter denen sie ins Berliner Zentrum fließt, von Süd nach Nord. Zuerst ein Horn und Melodien, die recht wahrscheinlich an diesem Ort noch nie zu hören waren. Dann eine Frau und ein knappes Dutzend alte Männer, die Lieder singen, in den Sprachen Zulu, Xhosa und Setswana. Gospelsongs und alte Lieder aus der Zeit des Kampfs gegen die Apartheid. Sie besingen die Einigkeit der Afrikaner und dass es keine Sünde sein darf, eine schwarze Haut zu haben.

In einem Lied geht es um den Kampf gegen die Buren, die weiße Minderheit am Kap von Afrika, die einen Holländischen Dialekt spricht, Afrikaans genannt, was freundlich klingt, wenn man nicht ahnt, dass das die Sprache jener ist, die die Schwarzen in Südafrika jahrzehntelang abgesondert, ausgenutzt und unterdrückt haben. Stanford Chipu Moagi, den alle Chippa nannten, wird zu Grabe getragen, ein Mann, der 46 seiner 66 Lebensjahre im Exil verbracht hat, 36 davon unter Deutschen. Als die Buren ihre Macht in Südafrika verloren, war er längst nicht mehr im Land. Die Sache mit der Burensprache, Afrikaans, spielte eine Rolle damals, als er seine Heimat verließ.

In Soweto ist er aufgewachsen, einer Ansammlung von Townships westlich von Johannesburg, in denen ausschließlich Schwarze lebten, ihrerseits nach Volksgruppen sortiert. Immerhin, in seinem Township gab es Strom. Chippas Vater betrieb eine Textilwäscherei, die Mutter ging putzen und starb früh. Die Schulen, die Chippa besuchte, waren überfüllt, die Lehrer überfordert und rabiat, der Lehrstoff gerade ausreichend für die niederen Jobs, die in Aussicht standen.

Im Frühjahr 1976 reformierte die Burenregierung das Bildungssystem, fortan sollte in den Township-Schulen die Hälfte von Unterricht und Prüfungen in Afrikaans stattfinden. Nur wenige der Schüler und Lehrer waren dazu imstande, Schulen protestierten. Die Regierung blieb dabei: Lernt die Sprache eurer weißen Herren!

Die Polizei schoss, es gab Tote

Viele junge Schwarze, so auch Chippa, warfen ihren Eltern vor, sich geduckt, nie aufbegehrt zu haben gegen das elende System. Die Wirtschaft prosperierte wie in keinem anderen Land des Kontinents, und in den Townships herrschten Elend und Gewalt. Die Schüler fassten Mut und organisierten einen Streik am 16. Juni 1976. Beim Protestmarsch nach Johannesburg war Chippa dabei. Die Polizei schoss, es gab Tote. Und anschließend in ganz Soweto wütende Proteste. Steine flogen, staatliche Gebäude wurden angezündet, Chippa mittendrin, die Polizei schoss weiter. Hunderte starben in den folgenden Tagen.

Die Schüler hatten eine eigene Organisation gegründet. Mit dem ANC und den Kommunisten konnten sie nichts anfangen, die versteckten sich im Untergrund und im Exil. Black Consciousness, darum ging es: Wir sind schwarz und stolz, wir zeigen uns! Die Schüler fuhren durchs Land, riefen zu Streiks auf, verteilten Flugblätter, Chippa mittendrin. Mit Erfolg, anfangs. Arbeiter streikten überall, die Proteste des Juni ‘76 und der folgenden Monate waren ein Fanal, ein erstes großes Aufbegehren.

Sie wurden niedergeschlagen, die Weißen behielten ihre Macht, viele junge schwarze Aktivisten gingen, wie zuvor der ANC und die Kommunisten, in den Untergrund und ins Exil. Auch Chippa. Er war 20.

Zuerst nach Botswana, es würde ja nur ein paar Monate dauern, bestimmt kein ganzes Jahr. Angola und Mosambik hatten sich gerade von den weißen Kolonialisten befreit, auch in Südafrika war es an der Zeit.

So die Hoffnung. Sie diskutierten revolutionäre Taktiken, sie lasen Marx, Lenin, Trotzki. Es war nicht ganz leicht, deren Theorien auf die afrikanische Praxis anzuwenden. Die Revolution ließ auch auf sich warten. Dass sie nicht friedlich ablaufen würde, da waren sie sich einig. Also schießen lernen! Chippa kam nach Angola, dann nach Tansania, dort gab es große Ausbildungslager, in denen der Umgang mit Kalaschnikow und Granaten trainiert wurde. Harte Kämpfer sollten die Exilanten werden, vorerst im Wartestand. Die Chefs vom ANC, von der bewaffneten Abteilung, würden erkennen, wann das Land reif für die Befreiung war, sie würden das Signal dann geben.

Das waren doch die Guten!

So lange saßen die jungen Exilanten da, warteten, schossen auf Scheiben, fern der Heimat. Langeweile und Gewalt. Was zum Teufel tun wir hier? Wie lange noch? Nicht wenige, auch Chippa, betäubten das Gefühl von Ohnmacht und Vergeblichkeit mit Alkohol. Damals, beim Aufstand in Soweto, hatten sie noch Trinkhallen kaputt gemacht, weil sich ihre Eltern, diese Nichtstuer, mit dem Zeug abgestumpft hatten.

Zehn Jahre verbrachte Chippa im afrikanischen Exil. Er war 30, als er sich entscheiden konnte, wo es weiterging. In den USA? Es gab ein Programm der Vereinten Nationen, das ihm da geholfen hätte. Aber waren die Amerikaner nicht Kapitalisten, genauso wie die Buren? Das kam nicht infrage. Die sozialistischen Staaten unterstützten den ANC, „internationale Solidarität”, sie hofften auf die Ausbreitung des Sozialismus. Von ihnen kam auch das Geld für die Lager in Angola und Tansania. Das waren doch die Guten! Chippa entschied sich für die DDR.

Und staunte, als er ankam. Diese kleinen, stinkenden Autos, die die Sozialisten fuhren. Die paar Zigarettensorten in den blassen Verpackungen, die sie rauchten. Schlangen vor Geschäften. War das der Sozialismus, für den er all das auf sich nahm? Fürs miese Wetter konnten sie nichts, aber alles andere? So viele Jahre hatte er schon im Exil ertragen; da würde er ein, zwei mehr hier oben auch durchstehen, eine Ausbildung machen, dann würde man schon weitersehen. Die Perspektive war nicht leuchtend, farbig, doch immerhin, es gab eine.

Ein paar Monate Sprachkurs in Wernigerode, Harz, dann ging es nach Hagenow, ein Nest im Norden, wo er eine Schlosserlehre anfing. Das war es nicht, sie fragten, was er sich anderes vorstellen würde, Lehrer vielleicht, und sie schickten ihn nach Potsdam, zu einer Pionierleiter-Ausbildung. So piefig das klingen mag, typisch DDR, es ist gut möglich, dass Chippa damit einverstanden war. Was sollte schlecht daran sein, Kinder zu guten Menschen zu erziehen? Was wusste er denn von den erstarrten Ritualen im echten Sozialismus?

Ein dramatischer Auftritt

Manchmal war er in Berlin, hatte Kontakt zu anderen ANC-Exilanten. Auf einer Party ebensolcher, 1988, lernte er Marianne kennen, eine Deutsche. Als er sie ansprach, hatte er schon so viel getrunken, dass sie wenig Interesse an ihm fand. Ein paar Tage später begegneten sie einander in der U-Bahn, er sprach sie wieder an, nüchtern, und die Dinge nahmen ihren Lauf.

Im Sommer 1989 geschah nun dies. Chippa hatte inzwischen genug von der DDR und vom Sozialismus erfahren, um zu wissen, dass er weder Pionierleiter werden noch hier bleiben wollte. In den Westen zu gelangen, war nicht ganz einfach, der ANC und die DDR hatten sich darauf geeinigt, Seitenwechsel der Exilanten nur in Ausnahmefällen zu genehmigen. In einem dramatischen Auftritt überzeugte Chippa die Passierscheinaussteller von der eher unwahrscheinlichen Geschichte seines schwer kranken Vaters in West-Berlin. Er erhielt die Erlaubnis und fragte Marianne, ob sie ihm folgen würde. Sie war schwanger. Und hatte bereits zwei Söhne aus einer früheren Beziehung, Zwillinge. Ihre Heimat verlassen wollte sie auf keinen Fall.

Eine Familie in der grauen DDR? Keine Option für Chippa, 32, haltlos, fern der Heimat. Er wechselte die Seiten, kam in der Kreuzberger Wohnung einer Südafrikanerin unter, die es über die Sowjetunion hierher verschlagen hatte, – und klopfte kurz nach Weihnachten desselben Jahres wieder bei Marianne in Friedrichshain an die Tür.

Die Mauer war gefallen, Marianne ließ ihn ein, gebar im Januar den Sohn und heiratete Chippa im Oktober. Zwei Tage darauf gab es die DDR nicht mehr.

Sie bekamen eine Dreizimmerwohnung, drei Jahre später kam noch eine Tochter auf die Welt, zwei Jahre darauf bezogen sie eine Wohnung mit fünf Zimmern. Chippa arbeitete hier und da, trainierte eine Fußballmannschaft, pflegte Alte, machte eine Lehre zum Zahnarzthelfer, verkaufte Kleidung bei „Wöhrl“. Die letzte Tätigkeit passte gut zu ihm, er war locker und gut gelaunt, ging auf die Leute zu und legte schon immer großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres.

2003 wurde die neue südafrikanische Botschaft in Berlin eröffnet. Da bekam er die erste feste Anstellung in seinem Leben, erst als Fahrer, dann im Büro für Visumangelegenheiten. An seine Wand hängte er ein Foto von Thomas Gottschalk, weil dessen Urlaubsangelegenheit über seinen Schreibtisch gegangen war. Wenn jemand ihm dumm kam, keinen Respekt vor Chippas alter Heimat zeigte, wurde er grantig: Es gibt hier Regeln, die können wir so oder so auslegen.

Aber was war eigentlich mit seiner alten Heimat, seiner Geschichte? Gehörte er inzwischen hierher oder wieder, nach dem Ende der Apartheid und der Wahl des ANC, dorthin? Wer war er eigentlich? Es ging ihm ähnlich wie so vielen, die ins Ausland gehen. Das Wort Heimat verliert den Sinn. In Deutschland Südafrikaner, in Südafrika ein Deutscher. Alle zwei Jahre fuhr er runter, nach Soweto. Er zeigte seinen Kindern, wo er herkam. Wirkte frei und locker, umgab sich gern mit jungen Leuten. Gab vor, eigentlich ein „Tsotsi“ zu sein, ein kleiner cooler Gangster aus dem Ghetto. Falls er das je gewesen sein sollte, lag das Jahrzehnte zurück.

Eine Rückkehr nach Südafrika kam nie infrage. Im ANC war er immer ein kleines Licht gewesen; die Pfründe teilten sich die Großen auf. Von denen hatte er keine gute Meinung. Die Rassentrennung war Geschichte, aber wem gehörte jetzt das Land? Wieder ein paar wenigen. Chippa, der alte Kämpfer, einer der Helden von 1976, der Exilant, hatte hier keine Chance.

Hilfe von anderen? Keine Chance!

Und wer hatte die Burenherrschaft zum Einsturz gebracht? Nicht er in Angola, Tansania, Deutschland. Wozu dann der Verzicht auf Heimat, die Strapazen, die Jahrzehnte im Transit? Heroische Bilanzen sehen anders aus. Kein Wunder, dass er über seine Bilanz mit niemandem sprach. Marianne und die Kinder wussten nur wenig von seiner Geschichte. Wenn er betrunken heimkam und gefühlig wurde, gab es Andeutungen. Jetzt nachfragen? Was sollte das bringen? Nüchtern spielten Gefühle keine Rolle. Dann erzählte er nur, dass er als Jugendlicher ein harter Kerl und seine Eltern streng gewesen seien.

Es gibt einen Freund von früher, der weiß mehr. Weil er selbst aus Soweto kommt und ein ähnliches Schicksal hatte. Auch er hat lange geschwiegen, und es ging ihm nicht gut damit. Er hat sich helfen lassen und empfahl das anderen. Bei Chippa: keine Chance. Der war doch cool, ein fröhlicher und stolzer Kerl, und gegen düstere Gedanken gibt es Mittel, die schmecken gut, erleichtern das Beisammensein, und hoch die Tassen!

Marianne trennte sich von ihm. Chippa erzählte allen, dass er sie verlassen habe. Er war der Mann. Vor ein paar Jahren erkundigte er sich im Internet, fuhr dann auf die Philippinen und kam zurück mit einer jungen Frau. Sie tat ihm gut; er trank jetzt weniger. Eine Zeit lang jedenfalls.

Ein Freund von ihm, über 20 Jahre jünger, erzählt von seiner merkwürdigen Chippa-Freundschaft. Bei einem Südafrikaner-Stammtisch haben sie sich kennengelernt, da war er noch ganz neu in Deutschland. Chippa erklärte ihm, wie es hier läuft und nannte ihn bald boy und son. In gewisser Weise war es eine Vater-Sohn-Beziehung. Für den Freund war es gut, jemanden zu haben, der half, sich hier zurechtzufinden. Außerdem spürte er Chippas Stolz auf ihn: ein junger Schwarzer aus einem armen Township, der es als Lehrer nach Deutschland geschafft hat. Über Chippas Geschichte sprachen sie nicht. So viel war klar: Chippa war einer von den alten Kämpfern gegen die Apartheid, einer, der das freie Leben des jungen Freundes ermöglicht hatte. Der Freund fühlte eine Verpflichtung, eine Art Dank.

Und er half Chippa in den folgenden Jahren, wo immer er konnte. Machte Besorgungen, kümmerte sich um den Telefonanschluss, stützte ihn auf manchem schweren Weg von der Kneipe in sein Bett. War nicht jeder Hilfeakt ein Beleg dafür, dass Chippas Opfer, Chippas Kampf nicht umsonst gewesen waren?

Und waren die alten Lieder, die sie zu Chippas Abschied auf der Berliner Halbinsel sangen, nicht ebenso ein Beleg? Ein Mann ist gestorben, der beim Kampf dabei gewesen war.

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