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Ute Schnur

© privat

Nachruf auf Ute Schnur: Vielleicht nicht geeignet

Sie sollte auf die Bühne, um ihren Orden abzuholen. Doch da waren Stufen und keine Rampe.

Ute soll am 1. Oktober 2013 den Verdienstorden des Landes Berlin von Klaus Wowereit überreicht bekommen für ihr Engagement für Menschen mit Behinderung. Sie zieht sich ein weißes Hemd an, darüber einen roten Pullunder, Stephan richtet seinen Krawattenknoten, und dann geht es los, sie sitzt, er schiebt den Rollstuhl, in einem Affenzahn mit langen, kräftigen Schritten über Bordsteinkanten, rissiges Pflaster, zwischen parkenden Autos hindurch, gleichzeitig unterhalten sie sich laut und fröhlich in diesem Getöse, der Fahrstuhl im S-Bahnhof funktioniert heute erfreulicherweise, sie erreichen das Rote Rathaus. Auf der Bühne Rednerpult und Blumen, vor der Bühne die Gäste, die gleich ausgezeichnet werden. Wowereit erscheint gut gelaunt, heute ist auch sein Geburtstag, er hält eine Laudatio nach der anderen, bis Ute an der Reihe ist. Seit Jahren, sagt der Bürgermeister, kämpfe sie unermüdlich und erfolgreich für Barrierefreiheit, in der Pappelallee und in der Kastanienallee, gegen den Widerstand von Anwohnern und Gewerbetreibenden, die maulten, Rollstuhlfahrer kämen sowieso nicht und nähmen den Autofahrern nur die Parkplätze weg, woraufhin ihr der Kragen geplatzt sei. Er sagt noch vielerlei andere schöne Worte, und dann soll Ute auf die Bühne kommen, um ihren Orden abzuholen.

Doch da sind Stufen. Und keine Rampe.

Wowereit stockt einen Moment, fängt sich, läuft die Stufen hinab zu Ute und reicht ihr die Auszeichnung dort unten, wo sie sitzt. Es heißt, er habe nach der Veranstaltung die Organisatoren nicht allzu freundlich behandelt.

„Ute“, erzählt Stefan, „war eigentlich immer freundlich. Charmant, optimistisch, geistreich, sexy.“ Das letzte Wort wiederholt er mit feinem Lächeln. Selten nur sei sie „massiv“ geworden, wie ihr Vater es einst ausgedrückt hatte. Zum Beispiel bei den Leuten in der Kastanienallee. Oder damals, noch zu DDR-Zeiten, gegenüber diesem Typen, der meinte, sie aufklären zu müssen, was „unter Adolf“ mit solchen wie ihr geschehen wäre.

Es war beschwerlich von Anfang an. Utes Mutter lag schwanger im Krankenhaus, zwei Söhne waren schon da, nun sollte noch eine Schwester hinzukommen. Man dachte, nur ein Mädchen sei in ihrem Bauch. Ein Arzt zweifelte. Doch da war es schon zu spät, Ute, der Zweiten der beiden, fehlte für ein paar Minuten der Sauerstoff, sie kam versehrt zur Welt. Der Fachbegriff lautet Athetose, Arme und Beine können nicht willkürlich bewegt werden, Sprachstörungen treten auf.

Eine Lehrerin im Rollstuhl passte nicht ins Bild

Utes Eltern, der Vater Komponist und Tonsetzer, die Mutter Oratoriensängerin, stemmten sich gegen jegliche Hindernisse. Zunächst ging es darum, dass Ute ein wenig laufen lernte, dass sie deutlich sprach. „Ich möchte zu Matina“, sagte sie, als sie mit ihrer Schwester spielen wollte, woraufhin der Vater erwiderte: „Ich kenne nur Martina. Sag das mit dem R!“

Die ersten vier Klassen waren kaum ein Problem, die Aufnahme an weiterführende Schulen, vor allem was das Abitur betraf, gestaltete sich schwieriger. „Vielleicht ist Ute nicht geeignet“, schrieben die Lehrer. Aber ihre Eltern ließen nicht locker, fanden einen Platz an einer Erweiterten Oberschule mit Internat in Thüringen. Sie schaffte das Abi, schaffte im Anschluss sogar die Aufnahme an der Universität Leipzig, für Anglistik. Eigentlich wollte sie Lehrerin werden, aber eine Lehrerin im Rollstuhl passte dann doch nicht ins Bild. In der Uni vor Ort durfte sie nicht studieren, sondern in Berlin, in den Räumen einer Reha-Einrichtung, wohin die Lehrmaterialien per Post geschickt wurden. Nach ihrem Abschluss übertrug sie medizinische Texte ins Englische, wechselte dann als Übersetzerin in ein Institut für Getreideverarbeitung in Rehbrücke.

Was dem Institut fehlte, war ein Fachwörterbuch. Also entwarf sie, zusammen mit ein, zwei Kollegen, ein eigenes, was dann jedoch, Papierknappheit soll der Grund gewesen sein, nicht gedruckt werden konnte. Es fand sich ein West-Berliner Verlag, das Buch wurde gedruckt, nun aber gab es nur die Devisen für ein einziges Exemplar. So war das in der DDR.

Anfang der 80er wohnte sie mit ihrer Zwillingsschwester in Berlin. Als ihre Schwester heiratete und auszog, musste sich Ute um Hilfe kümmern. Sie verbrachte ihre Nachmittage häufig in der Evangelischen Gemeinde in Karow. Dort lief ihr Stephan über den Weg. Am Anfang waren sie nur Freunde, er kam zu ihr, kochte, sie redeten. „Richtig interessant wurde die Sache 1983“, erzählt Stephan und lacht. 1985 heirateten sie.

Am 3. November 1989, es war die Zeit der großen Umwälzungen, erschien eine Notiz im „Neuen Deutschland“: „Behinderte kamen zusammen, um einen Verband zu gründen.“ Einen solchen gab es in der DDR bisher noch nicht. Es ging um Rechte, um bürokratische Hürden, um Akzeptanz. Eine Erfahrung, die Ute machte: Menschen, die mit einer Einschränkung geboren werden, haben schlechtere Karten als jene mit später erworbener Behinderung: „Der Arme stand doch mitten im blühenden Leben“, sagten die Leute mitleidig über letztere, als hätten die ersteren das Plus der Gewohnheit.

Nach der Wende stürzte sich Ute ganz und gar in die politische Arbeit. Gründete einen Verein, machte bei einer Zeitung mit, wurde Abgeordnete für die Grünen im Bezirksparlament Pankow, rollte von einem Ausschuss zur nächsten Fraktionssitzung. Sie lud den S-Bahn-Direktor zu sich und wies ihn auf die unmögliche Situation am Bahnhof Pankow hin, worauf der eine Rampe anlegen ließ, die allerdings in eine Schrebergartenanlage führte, was einen großen Umweg für die Rollstuhlfahrer bedeutete. Diejenigen, die die Rollstühle schieben, „die Latscher“, müssen eben gut zu Fuß sein.

Sie tanzten oft gemeinsam, Ute an Stephan geschmiegt, nur ein wenig von ihm gestützt, ineinander versunken, der Rollstuhl leer am Rand.

In Sommer 2022 brach sich Ute einen Arm. Die Operation verlief gut. Aber dann steckte sie sich im Krankenhaus mit einem multiresistenten Keim an.

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