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Winfried Haenschke

© privat

Nachruf auf Winfried Haenschke: Es ist normal

Ein Psychologe in der DDR? Im Sozialismus gab es doch keine kaputten Menschen!

Sie ist weg. Verschwunden. Von einem Tag auf den anderen. Ihre Stimme, ihr Geruch, ihre Hände, wenn sie ihn halten. Er ist vollkommen allein. Ohne Mutter.

Dann eine andere Stimme, früh, in der Dämmerung, ein fremder, herber Geruch, keine Hände, die ihn berühren. Erst am Abend, das Licht verschwindet schon, hört er die Stimme wieder. In den Stunden dazwischen liegt er allein auf einer Matratze.

Winfried fehlt jede bewusste Erinnerung an diese Zeit, er ist noch nicht einmal ein Jahr alt. Aber er hat ein Gefühl, eine vage Ahnung, die sich mit späteren Erzählungen vermischt.

Er kam in Olbersdorf, das heute in Tschechien liegt, zur Welt, seine Mutter gab ihn gleich nach der Geburt in ein Kinderheim, weil sie arbeiten musste, kam jedoch am Abend und an den Wochenenden zu ihm. Sie liebte einen Juristen, der bereits verheiratet war und drei Kinder hatte und ihr immerzu versprach, seine Familie für sie zu verlassen. Ein Märchen, eine Lüge. Winfried war bereits der zweite Sohn dieser Beziehung, sein größerer Bruder lebte in einem anderen Kinderheim. Ihrem eigenen Vater hatte die Mutter das erste uneheliche Kind noch gestanden und es nach dem Krieg nach Hause geholt. Für das zweite fehlte ihr der Mut. Sie verschwieg Winfried.

Tante Ida war ein großes Glück

Anfang 1945 wurde das Kinderheim wegen der herannahenden Kämpfe überstürzt in den Harz verlegt. Keine der Mütter erfuhr, wohin.

Es gab kaum Essen für die Kinder. Also entschied man, sie in Pflegefamilien unterzubringen. Winfried kam zu einer Frau, die ihn am Morgen notdürftig versorgte, dann zur Feldarbeit aufbrach und erst am Abend wiederkehrte.

Winfried wäre fast verhungert. Hätte ihn nicht eine Kinderschwester gefunden. Sie nahm den Jungen und brachte ihn zu Tante Ida, wie er seine Pflegemutter nennen würde. Tante Ida war ein großes Glück. Man hatte ihr erzählt, Winfrieds Mutter sei gestorben. Für sie war er jetzt ihr zweites Kind, Punktum.

Seine eigentliche Mutter wohnte inzwischen in Bernburg, gut 80 Kilometer von Winfried entfernt. Sie hatte keine Ahnung, wusste nicht einmal, ob er noch lebte. Eines Tages erzählte ihr eine Nachbarin, im Radio habe es eine Durchsage gegeben: Ein Winfried Haenschke suche seine Mutter. Der DRK-Suchdienst hatte sich der Sache doch noch angenommen.

Winfried war acht. Und plötzlich stand diese Frau vor ihm und sagte, sie sei seine Mutter. Am Anfang besuchte sie ihn nur, dann, nach dem Tod ihres Vaters, nahm sie ihn ganz zu sich. Tante Ida weinte, Winfried weinte. Dann versuchte er die Sache kühl zu betrachten: Sie ist meine biologische Mutter, es ist normal, dass ich bei ihr lebe. Später wird er von einem Trauma sprechen. Seine Mutter tat alles für ihn und seinen Bruder, aber Tante Idas Stimme, ihren Geruch, ihre vertrauten Hände hatte sie nicht.

Er war sehr gut in der Schule, vor allem in den Naturwissenschaften, und kam auf eine Abiturschule in Leuna, wo man gleichzeitig zum Chemiefacharbeiter ausgebildet wurde. Er war immer noch sehr gut in den Naturwissenschaften, seine Klassenkameraden aber hatten den Eindruck, er sinne über Dinge nach, zu denen sie keinen Zugang hatten, philosophische Fragen, psychologische Probleme. Er wirkte verschlossen, durchgeistigt. Er begann Rubinstein und Leontjew, sowjetische Psychologen, zu lesen, und entschied sich, Psychologie zu studieren. Derlei Studienplätze waren jedoch äußerst rar. In einem sozialistischen Staat gab es doch keine kaputten Menschen (erst Jahre nach der Wende wurde bekannt, dass die Selbsttötungsrate in der DDR die höchste in Europa war). 

Also „Arbeits- und Ingenieurpsychologie“. In diesem Fach ging es darum, wie man die Arbeitsproduktivität steigern kann. Winfried entwickelte so genannte Wahrnehmungs- und Punktmodelle, die Möglichkeit, komplexe Gebilde in einfache zu übersetzen, vielschichtige Arbeitsprozesse in großen Betrieben übersichtlich und effizient darzustellen. Er begann, eine Doktorarbeit zum Thema zu schreiben, zeichnete Muster aus Punkten auf Millimeterpapier, entwickelte Strukturen, ersann mathematische Modelle. Die Arbeit an der Dissertation zog und zog sich, während Barbara, seine Frau, mit der ihren längst fertig war. Auch sie eine Psychologin.

„Wir saßen da und niemand brauchte uns“

Die beiden bekamen zwei Kinder, er erfand Worte für sie, er streifte mit ihnen durch Buchläden, las ihnen vor, erklärte die Welt der Technik. Und eines Tages, als sein dreijähriger Sohn zum Essen kommen sollte, legte dieser seine Stirn in Falten und sagte: Störe mich nicht, ich mache Punktmuster.

Anfang der 70er Jahre hatte man Winfried eine Stelle an der „Akademie der Wissenschaften“ angeboten. Weil jedoch die Schwester seiner Frau versucht hatte, die DDR zu verlassen und verhaftet worden war, bekam er die Stelle nicht. Ein Jahr lang blieb er ohne Arbeit. Bis es ihm über Beziehungen gelang, Fachlektor für psychologische Literatur im „Verlag der Wissenschaften“ zu werden.

Nach der Wende löste man den Verlag auf, obwohl auch die von Winfried lektorierten Bücher über kognitive Psychologie und Arbeitspsychologie weltweit gelesen wurden. Das Institut seiner Frau verschwand ebenso. Sie sagt: „Wir saßen da und niemand brauchte uns.“ Winfried versenkte sich in seine Punktmuster. Kamen Freunde zu Besuch, lotste er sie vom Wohn- in sein Arbeitszimmer, in dem überall gepunktete A4-Blätter angepinnt waren. Er erklärte seine neuen Ansätze, nur wenige verstanden sie.

Irgendwann fand er wieder Arbeit, begleitete psychisch kranke, abgehängte Menschen bei Behördengängen, bei den Versuchen, wieder Fuß zu fassen.

Über sein eigenes Trauma sagte er selten etwas.

Dann kam die Diagnose: Krebs. Im Hospiz begann er, ein wenig mehr zu sprechen, von seiner Mutter, von Tante Ida, vom Verlust. Gleichzeitig las er Aufsätze über Differentialrechnung. Und schrieb weiter an seiner Dissertation über Wahrnehmungsmodelle.

Sein Sohn schaut sich alle Unterlagen an. Vielleicht wird ja noch etwas daraus entstehen.

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