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Berlin: Türkischen Eltern soll das in Industrienationen gewachsene Konzept von Erziehung transparent gemacht werden

Als Hülya ihre zweieinhalbjährige Tochter Canan in der Kita anmelden will, ist die Aufregung bei den Großeltern groß. "Dich haben wir selbst großgezogen und dir unsere Sitten weitergegeben.

Als Hülya ihre zweieinhalbjährige Tochter Canan in der Kita anmelden will, ist die Aufregung bei den Großeltern groß. "Dich haben wir selbst großgezogen und dir unsere Sitten weitergegeben. Und - fehlt Dir etwas?", beklagt sich ihre Mutter. Doch die Großmutter sorgt sich nicht nur darum, ob dem Kind womöglich etwas fehlt, sondern um den schlechten Einfluss, den ein deutscher Kindergarten haben könnte. "Wenn mein Enkelkind unter Deutschen aufwächst, wird es sich von uns entfremden. Es wird Schweinefleisch essen. Und dann?" Hülya sucht Rat bei Freunden, guckt sich schließlich gemeinsam mit ihrer Mutter mehrere Kindergärten an. Schließlich finden sie einen, in der sie von der deutschen Erzieherin mit ein paar Brocken Türkisch begrüßt werden. Oma strahlt, Canan wird angemeldet. Ende gut, alles gut.

So ist das bei Geschichten. Canan, Hülya und der Vater Oktay sind die Hauptfiguren der neuen türkisch-deutschen Elternbriefe, die Familienministerin Christine Bergmann (SPD) gestern in Kreuzberg vorstellte. Autor der achtseitigen Briefe, die in den kommenden Wochen bundesweit an 50 000 junge türkischsprachige Eltern verschickt werden, ist der türkische Kinder- und Jugendbuchautor Kemal Kurt. In rührend geschriebenen Geschichten verpackt er all die Probleme, die Eltern kleiner Kinder, und speziell Migranten, so bewegen - vom Stillen über anstehende Impfungen bis zu der Frage, welche Sprache das Kind als erste lernen soll. Erstellt wurden die Briefe, die vierteljährlich verschickt werden sollen, vom Arbeitskreis Neue Erziehung. Seit ein paar Wochen strahlt Canan in Berlin auch von Plakaten: "Wer ist eigentlich Canan?", steht auf dem ersten, "Wie geht es eigentlich Canan?", auf dem zweiten.

Als "wichtigen Beitrag zur Integration" bezeichnete Bergmann bei der gestrigen Präsentation die Briefe. Es werde immer deutlicher, dass gerade türkische Eltern einen erheblichen Informationsbedarf hätten, wie Erziehung in Deutschland vonstatten gehe. "Wir wollen türkischen Eltern das in Industrienationen gewachsene Konzept von Erziehung transparent machen", erklärte auch Gudrun Hessemer vom Arbeitskreis Neue Erziehung. Dabei gehe es nicht um einen paternalistischen Ansatz, sondern darum, Alternativen und Angebote zu präsentieren. Anders als gemeinhin angenommen, hätten viele türkische Migranten in Deutschland ein "ungeheuer großes Bildungsinteresse". Gerade die Frage, ob Kinder ein- oder zweisprachig groß werden sollten, sei für viele Eltern enorm schwierig zu beantworten.

Tatsächlich gehen die Briefe, die außer der Fortsetzungsgeschichte um Canan, Hülya und Oktay auch Kästen mit praktischen Tips enthalten, realistisch auf die Lebenswelt deutscher Türken ein. Immer wieder steht das Leben zwischen zwei Kulturen im Vordergrund - vermittelt zum Beispiel durch eine für drei Monate aus der Türkei anreisende Schwiegermutter, das schlechte Gewissen von Hülya und Oktay, wenn sie nicht auf deren gutgemeinte Vorschläge eingehen sowie die völlig andere Lebensrealität in einer deutschen Großstadt. Jeder Elternbrief behandelt ein bestimmtes Thema: Auf die Frage nach dem richtigen Kindergarten folgen bis zum kommenden Sommer "Grenzen setzen", "Zweisprachigkeit" und "Geschwisterbeziehungen". Um mit den Elternbriefen auf reale Fragen der Migranten einzugehen, stand vor ihrer Erstellung ein Pilotprojekt unter Leitung des Essener Zentrums für Türkeistudien. Aus über 2000 Interviews mit türkischen Familien sei das Konzept entstanden, erläuterte Faruk Sen, Leiter des Essener Zentrums. Sen verwies auch auf die Größe der Zielgruppe: Ein Drittel der türkischen Bevölkerung in Deutschland ist unter 18, jeder zweite unter 25 Jahre alt. "Diese Menschen nutzen in der überwiegenden Mehrzahl türkische Medien", so Sen, "und es spricht nichts dafür, dass sich das demnächst ändert. Wenn wir sie erreichen wollen, müssen wir diese Medien auch in Anspruch nehmen." So sind auch die Elternbriefe in Türkisch und Deutsch geschrieben.

In Berlin werden in den kommenden Wochen 15 000 Exemplare der Elternbriefe verschickt. Die während der Pilotphase verfassten drei "Probebriefe" stießen hier offenbar auf große Resonanz: Nach Angaben des Arbeitskreises Neue Erziehung hätte jeder dritte Adressat die Briefe nachweislich auch gelesen. Und: Über 90 Prozent seien "mit dem, was Hülya sagt", einverstanden, erklärte Gudrun Hessemer.

Jeannette Goddar

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