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Autorin Ortrud Wohlwend (links oben) mit vier Generationen aus dem Familienalbum: Hier schiebt sie ihre im Mai 2020 verstorbene Mutter Inge im Rollstuhl, Tochter Sophie schiebt Enkel Diego im Kinderwagen.

© privat

75 Visionen für Berlin – Folge 16: "Wir brauchen Kitas und Seniorenheime unter einem Dach"

Betreuen wir Kinder und Senioren zusammen – und beurteilen sie nicht als Kostenfaktoren. Ein Appell von Ortrud Wohlwend, über 20 Jahre Sprecherin der Stadtmission, für unsere Serie "75 Visionen".

Ich habe einen Traum. So begann Martin Luther King seine Vision vom Zusammenleben der Menschen. Auch ich habe einen Traum: Mehr kleine und alte Menschen sollten zusammenleben, unter einem Dach! Ich träume von Häusern mit Kindergarten und Seniorenheim. Um solche Miteinander-Leben-Konzepte umzusetzen, braucht es keine Arbeitsgruppen, die Jahre um Jahre tagen. Es braucht nur ein wenig Mut – und gute Architekten.

Herumzudoktern an einem System, das keinen zufrieden und schon gar nicht glücklich macht, bringt uns nicht weiter. Geld verdienen mit der Pflege alter Menschen, Rendite machen mit ihnen: Das muss enden. Schluss mit der Isolation und Einsamkeit von Alten! Viele fühlen sich abgeschoben, es kommt wenig oder gar kein Besuch. Sie sitzen vor dem Fernseher und warten auf die Essenszeiten als Höhepunkt des Tages.

Zugleich arbeiten Altenpflegerinnen und -pfleger am Limit. Weil alles so viel kostet, weil immer weniger Menschen alte Menschen pflegen wollen, werden auch die Pflegenden krank. Nicht nur am Rücken, der Job lastet auf der Seele. Viele wollen mehr, als nur versorgen, sie treten mit Idealen an und müssen dann zu viele Kompromisse machen. Das macht sie krank.

Kinder und Senioren unter einem Dach - hier beim gemeinsamen Ballspielen der Kita und des Generationenhauses am Beerenpfuhl in Berlin-Hellersdorf.
Kinder und Senioren unter einem Dach - hier beim gemeinsamen Ballspielen der Kita und des Generationenhauses am Beerenpfuhl in Berlin-Hellersdorf.

© Thilo Rückeis

Es liegt am System, das wir zu lange dulden: Menschen werden im Alter abhängig von Menschen vom Amt. Angehörige kämpfen gegen oftmals sinnlose gesetzliche Bestimmungen, die einen zur Verzweiflung bringen. Die verschwurbelte Amtssprache versteht kaum einer. Amtsbriefe treffen am Samstag ein. Sie sind in Ton und Sprache so verfasst, dass sie hilflos und wütend machen. Übers Wochenende ist niemand zu erreichen und es scheint System zu sein, damit man sich wieder abregt bis zum Montag.

Was tun wir gegen die Angst davor, im Seniorenheim zu enden?

Wir alle werden alt, wir alle haben Angst, in einem Seniorenheim zu enden. Was tun wir dagegen? Nichts. Was braucht ein alter Mensch, der sich eingestehen muss, nicht mehr so stark und leistungsfähig zu sein wie in jungen Jahren? Was brauche ich, wenn ich alt und auf Unterstützung im Alltag angewiesen bin? Wer stellt sich von uns vor, auf einen Rollator angewiesen zu sein?

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Wir flüchten uns in die Idee einer selbst organisierten Alten-WG, wo wir einfach so weiter machen, wie bisher, nur mit grauen Haaren. Selbst dagegen gibt es ja Haarfarbe. Als alte Frau möchte ich mit kleinen Kindern in einem lebendigen Menschenhaus leben. Ich werde Hilfe benötigen und brauche einen guten Grund, um morgens aufzustehen. Menschliche Wärme ist einer. Die brauchen Kinder auch. Wir sind uns in unserem Verhalten ziemlich ähnlich.

Bei der Berliner Stadtmission, wo ich als Pressesprecherin arbeitete, bewarb sich vor 20 Jahren ein junger Mann für eine Zivistelle. Er war spät dran und bat unsere Personalerin dringend um eine Stelle. Er würde alles machen, aber auf keinen Fall Altenpflege. Die engagierte Personalerin hatte aber nichts anderes mehr anzubieten und so blieb ihm nur die Stelle im Seniorenheim. Zerknirscht sagte er zu.

Wochen später traf ich ihn, zufrieden lächelnd. Auf meine Frage, was passiert sei, sagte er: „Ich sollte eine Seniorin in ihrem Bett füttern und sah über ihrem Bett einen Bilderrahmen mit einem Foto von einer wunderschönen Frau. Ich dachte, es wäre ihre Enkelin. Aber sie sagte, nein, das bin ich als ich jung war. Ich sah diese alte Frau dann mit ganz neuen Augen. Eine ehemals schöne junge Frau, die nun Pflege brauchte. Ich habe vorher nicht verstanden, das alte Menschen auch mal jung waren. Es war ein reiner Glücksfall, dass es keine andere Zivistelle für mich mehr gab.“

Gastautorin Ortrud Wohlwend arbeitete von 1995 bis 2019 als Pressesprecherin der Berliner Stadtmission.
Gastautorin Ortrud Wohlwend arbeitete von 1995 bis 2019 als Pressesprecherin der Berliner Stadtmission.

© Gregor Anthes/Privat

[Die Autorin Ortrud Wohlwend war von 1995 bis 2019 Sprecherin der Berliner Stadtmission.]

In unserer Gesellschaft werden Menschen als Kostenfaktor beurteilt. Was kostet ein Heimplatz? Was kostet ein Kitaplatz? Was kostet eine Pflegekraft? Immer heißt es: zu viel! Das ist nicht finanzierbar. Wieso können Banken mit Milliarden gerettet werden, aber wir lassen alte Menschen und Kinder im Stich?

Ein Leben darf nicht als Kostenfaktor betrachtet werden

Wir zahlen irgendwann alle den Preis dafür, wenn wir nichts ändern. Denn die meisten von uns werden alt. Alte Menschen sind wertvoll für uns, sie bringen ihre Lebenserfahrung, ihre Liebe ein. Sie haben nicht gefragt, was der Staat für sie macht, sie haben sich eingebracht. Die meisten haben Kinder groß gezogen, haben Enkel und Urenkel. Nun wird ihr Leben einzig als Kostenfaktor gegen gerechnet. Das ist nicht zum Aushalten. Wie können wir so unmenschlich sein? Das muss sich ändern. Koste es, was es wolle. Bei den Banken ging es. Warum nicht auch mit den Menschen? Geld kann man nicht essen, Liebe aber macht satt.

[Lesen Sie hier über einen aktuellen Aufruf der Stadtmission zum Spenden von Schlafsäcken für Obdachlosen]

Ich habe einen Traum, einen Traum von einem Haus, in dem kleine Kinder und alte Menschen einander begegnen, sich kennenlernen können. Es gibt getrennte Bereiche für die Kinder und die Senioren. Es gibt gemeinsame Bereiche fürs Essen, fürs Geschichten erzählen und fürs Spielen. Alte Menschen und kleine Kinder sehen einander mit dem Herzen an. Sie haben unausgesprochen Verständnis füreinander, wenn beim Essen gesabbert wird oder etwas herunterfällt. Das erleben sie alle.

Es gibt gesundes Essen, liebevoll angerichtet: Ein bisschen Petersilie auf der Kartoffel, einer Kirsche auf dem Pudding. Frisch zubereitet im Haus für Senioren und Kinder. Diese lernen so gutes Essen schätzen. Und ganz wichtig, es ist nicht still, es wird gelacht und geschmunzelt. Alte, besonders demenzkranke Menschen blühen auf, wenn Kinder in ihrer Umgebung sind. Sie werden wieder zu Müttern, Vätern oder auch Großeltern, wenn Leben in der Bude ist. Und Kindern fällt es leichter, Menschen so anzunehmen, wie sie sind, sie verschenken Liebe und Zutrauen. Sie vertrauen auf Wunder und sie bewirken sie.

Kinder und Senioren unter einem Dach: Senior Wolfgang Leifheit beim gemeinsamen Vorlesen der Kita und des Generationenhauses am Beerenpfuhl in Berlin-Hellersdorf (Archiv aus dem Jahr 2019).
Kinder und Senioren unter einem Dach: Senior Wolfgang Leifheit beim gemeinsamen Vorlesen der Kita und des Generationenhauses am Beerenpfuhl in Berlin-Hellersdorf (Archiv aus dem Jahr 2019).

© Thilo Rückeis

Kinder erfahren, dass Altwerden kein Schrecknis ist. Sie werden damit groß, dass Menschen Hilfe brauchen. So wie sie auch, aber eben anders. Es ist für sie vollkommen normal, dass ein alter Mensch eine Windel trägt. Oder keine Zähne mehr hat. Windeln tragen sie ja auch und Zähne haben sie noch nicht. Für sie spielt das Alter keine Rolle. Kinder lernen zu essen und kleckern dabei, das machen die anderen auch. Kinder lernen zu erkennen, wer welchen Charakter hat, wer gut zu leiden ist oder wer eher nicht. Fast jedes Kind findet seinen entsprechenden alten Menschen, dem es vertraut und vielleicht sogar lieb gewinnt. Es könnte vorkommen, dass beim Geschichten erzählen ein Klettern auf den Rollstuhl und Kuscheln beiden gut tut. Kinder erleben, was viel Zeit haben für sie bedeutet. Senioren haben viel Zeit, den ganzen langen Tag.

Eltern kleiner Kinder haben oft keine Zeit. Senioren schon

Diese Zeit im Überfluss haben Eltern in der Regel nicht. Morgens gibt es Hektik, alles muss schnell gehen. Oft gibt es Stress und manchmal auch laute Worte. Wenn sich ein Kind auf „seine Oma“ oder „seinen Opa“ morgens schon freut, geht alles leichter. Zusammensein erleichtert auch Eltern das Leben.

Man stelle sich vor: Pflegende und Erzieher haben viel Abwechslung in ihrem Berufsalltag. Es gibt Rückzugsorte und lebendigen Trubel. Es gibt Mitgefühl und Freude. Es sind viele da, die sich die Arbeit gut einrichten können, sie haben Zeit und werden angemessen entlohnt. Es braucht dann kein Handy, um der Tristesse kurz zu entfliehen. Um den Tag überleben zu können, trotz der Arbeit. Es gibt weniger Krankenstand und mehr Anerkennung. Das tut allen gut.

Denken wir mit Bedacht über unser Handeln nach. Denken wir an die Konsequenzen für andere Menschen. Tun wir nichts, was andere uns nicht antun sollen. Geben wir unser Bestes zum Wohle unserer Stadt Berlin.

Meine Mutter lebte ihre letzten fünf Lebensjahre in einem Pflegeheim. Für ihre Urenkel gehörte Oma Inge selbstverständlich zur Familie und wurde heiß geliebt. Sie ist in diesem Jahr friedlich gestorben, am 8. Mai, kurz vor ihrem 90. Geburtstag. Wir durften zu ihr ins Heim, wir konnten bei ihr sein. Auch ihre neun Jahre alte Ur-Enkelin hat Abschied genommen, Das war ihr sehr wichtig. Wir haben meine Mutter auf einem Evangelischen Friedhof beerdigt, gemeinsam mit der ganzen Familie und Freunden. Noch bevor sie unter der Erde lag, flatterte die Rechnung mit Zahlungsfrist von der Friedhofsverwaltung ein. Ohne jede Anteilnahme. Kein Beileid ausgesprochen, kein Psalm, nichts. Was soll ich dazu sagen? Mit dem Rechenschieber kommen wir nicht weiter.

Ortrud Wohlwend

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