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Die Jury. (V.l.) Florian Valerius, Shila Behjat, Lisa Schumacher, Heinz Drügh, Katharina Teutsch, Matthias Weichelt, Melanie Mühl.

© Christof Jakob

Deutscher Buchpreis: Wer hat die größten Chancen?

Sechs Werke stehen auf der Shortlist. Literaturexperten und Publikum müssen bis zum 16. Oktober warten: Dann ist Preisverleihung im Frankfurter Römer. Auf welche Bücher drei Literaturexperten setzen.

Wer wird ausgezeichnet? Die wütend zarte Migrationsgeschichte „Vatermal“ von Negati Öziri, Anne Rabes hochemotionaler Ost-West-Roman „Die Möglichkeit von Glück“ oder Ulrike Sterblichs Buch „Drifter“ über das große Nichts?

Zur Wahl steht außerdem der Coming-of-Age Roman „Echtzeitalter“ von Tonio Schachinger, „Maman“, Sylvie Schenks Buch über die Kindheit ihrer Mutter, und Terézia Moras „Muna oder die Hälfte des Lebens“ über eine toxische Beziehung.

In unserer Serie „3 auf 1“ geben drei Experten eine Prognose dazu ab. Alle Folgen von „3 auf 1“ finden Sie hier.


Man muss nach den eigenen Vorlieben gehen

Was für die nominierten Autorinnen und Autoren vermutlich eine Tortur ist, nämlich das Warten bis zur Entscheidung, hat fürs interessierte Publikum viel Unterhaltungswert. Jahr für Jahr wird spekuliert, wer denn von der Shortlist mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wird, und in Literaturredaktionen wird diskutiert.

Die bittere Buchpreis-Realität aber lautet: Kein Expertenwissen hilft. Dieses Jahr steht mit Terézia Mora eine Büchner-Preisträgerin in der Schlussrunde, die den Buchpreis schon mal erhalten hat. Ist sie also die Favoritin? Oder gerade nicht? Anne Rabe hat einen Roman geschrieben, der mit der DDR-Vergangenheit einer ostdeutschen Familie ein wichtiges Debattenthema aufgreift. Aber überzeugt das Werk auch literarisch?

Es hilft nichts. Man muss nach den eigenen Vorlieben gehen: Sylvie Schenks „Maman“ ist die schönste, klügste und witzigste Autofiktion seit Jahren. Wie sich die Autorin auf sowohl empathische als auch bissige Weise der Mutter nähert, ist preiswürdig.


Die Tendenz der vergangenen Jahre: erst der Stoff, dann die Ästhetik

Es gibt seit einigen Jahren auch im deutschsprachigen Literaturbetrieb die Tendenz, Bücher weniger wegen ihrer literarischen Leistung als viel mehr nach politisch-moralischen Kriterien zu bewerten. Erst der Stoff, dann die Ästhetik.

An den Nominierungen für den Deutschen Buchpreis und den Preis der Leipziger Buchmesse der vergangenen Jahre lässt sich das gut belegen, an den siegreichen Büchern überdies.

Der beste Roman auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2023 ist Silvie Schenks Roman „Maman“. Hier stimmen Komposition und Erzähltes, hier könnte man vorsichtig von einem feministischen Roman sprechen, obwohl Schenk eher eine leisere Vertreterin ist und über keinem „Maman“-Kapitel trotz vieler Frauenschicksale groß und fett Feminismus steht.

Insofern dürfte es entweder Anna Rabe werden mit „Die Möglichkeit von Glück“ (Ost-West-Debatte) oder Necati Öziri mit „Vatermal“ (postmigrantischer Roman über die Zerrüttungen einer deutsch-türkischen Familie.)


Ohne verlässliche Kriterien für ein Urteil

In meinen unruhigsten Nächten, wenn mich der Ausgang des Deutschen Buchpreis quält, träumt mir, dass am Montag im Kaisersaal des Frankfurter Römers einmal alles anders sein wird. Punkt 18 Uhr, die Kameras laufen, tritt die siebenköpfige Jury auf die Bühne und erklärt im Chor: Es tut uns leid, aber wir konnten uns nicht einigen. Wir waren uns von Anfang an nicht einig, aber mit diesen sechs Titeln sind wir uns uneiniger denn je. Ohne verlässliche Kriterien, was wichtig und was unwichtig ist, was Literatur und was Unterhaltung, haben wir uns in diese Zwangslage begeben.

Wir geben dem Deutschen Börsenverein die Gelegenheit, den Preis von Grund auf zu überdenken und verteilen das Geld gleichmäßig auf alle Shortlist-Kandidaten und Kandidatinnen. Ein Stoßseufzer der Erleichterung wird bis nach Berlin zu hören sein. Die Nachrichtensendungen haben eine Spitzenmeldung, und schon in naher Zukunft wird 2023 als das Jahr gelten, in dem die Blüte der deutschen Literatur einen neuen Anfang nahm.

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