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Medien: Tränen lügen nicht

Der 17-jährige Daniel erlitt bei der „ Superstar“-Show einen Nervenzusammenbruch. Bei RTL geht alles weiter, ganz normal

Die RTL-Show „Deutschland sucht den Superstar“ endete am Sonnabend mit einem Eklat. Daniel Küblböck, der schräge 17-Jährige, der immer ein wenig neben der Spur zu sein scheint, bekam einen Heulkrampf. Als er hört, dass völlig unerwartet Mit-Favoritin Gracia von den Zuschauern herausgewählt worden ist, fängt er an zu weinen, schreit, rutscht vom Sofa auf den Boden. Nervenzusammenbruch. Moderator Carsten Spengemann geht zu ihm, nimmt ihn in den Arm. Daniel heult weiter, das Publikum in der Halle buht. Co-Moderatorin Michelle Hunziker sagt: „Ich will das nicht mehr“. Dann wird ein Musiktrailer eingespielt. Als die Kameras wieder live in die Show schalten, ist Spengemann auf seinen Moderatorenplatz zurückgekehrt, sagt, „das ist der tränenreichste Abschied, den wir bislang erleben durften“ und leitet über zu den „schönsten Momenten mit Gracia“. Es werden Einspieler aus früheren Sendungen der Casting-Show gezeigt. Danach das Schlussbild: Die Kandidaten stehen, das Gesicht von der Kamera abgewandt, fassungslos und weinend zusammen, wie ein Häufchen Elend. Daniel ist nicht mehr zu sehen. Er war in der Zwischenzeit herausgeführt worden, in einen separaten Raum, sagt Christian Körner von der Produktionsfirma Grundy Light Entertainment am Tag danach.

Am Sonntagmorgen wurde die Sendung auf RTL wiederholt. Die tumultartigen Szenen waren herausgeschnitten worden. Kein weinender Daniel, keine Hunziker, die sagt, sie wolle das nicht mehr, nichts.

Glaubt man Sender und Produktionsfirma, ging’s Daniel schon eine halbe Stunde nach dem Nervenzusammenbruch wieder prima. Er sei als Erster zur After-Show-Party gekommen, habe gelacht wie eh und je und gesagt, er werde weitermachen, das Casting gewinnen und von nun an für Gracia mitkämpfen. Die Entscheidung habe ihn sehr getroffen, weil Gracia für ihn wie eine Ersatzschwester gewesen sei. Die Finalisten von „Deutschland sucht den Superstar“ wohnen bis zum Ende des Castings zusammen in einer Art Wohngemeinschaft. Daniel und Gracia hatten sich eine Zeitlang das Zimmer geteilt.

Ein Sprecher von RTL sagte am Sonntag, die tumultartigen Szenen seien für die Wiederholung herausgeschnitten worden, um Daniels emotionale Reaktion nicht „ohne den entsprechenden Kontext“ zu zeigen. Noch in der Nacht zum Sonntag habe RTL Daniel interviewt. Da sei es ihm schon wieder gut gegangen. Einen Teil der herausgeschnittenen Szenen inklusive Interview zeigte RTL am Sonntagabend tatsächlich im Boulevardmagazin „Exklusiv“. Von der Mitleid erregenden Dramatik der Live-Sendung kam wenig rüber. Das sollte es wohl auch nicht.

Man stelle sich vor, die Finalisten und Moderatoren hätten nach diesem Vorfall genug von der Show, würden sich solidarisieren und einfach nicht mehr mitmachen. Für einen Moment sah es am Sonnabend danach aus. Doch das wird keiner tun, auch Hunziker nicht, ist sich RTL sicher. Alles gehe ganz normal weiter, sagte am Sonntag ein RTL-Sprecher. Hunziker habe mit dem Satz („Ich will das nicht mehr“) nur deutlich machen wollen, dass man nun zum gewohnten Sendeablauf zurückkehren, die Show fortsetzenmüsse. Dem Fernsehzuschauer hatte sich das anders dargestellt, eher so, als sei für die Moderatorin die Schmerzgrenze erreicht.

Bei „Deutschland sucht den Superstar“ wird binnen weniger Wochen aus unbekannten Teenies und Anfangzwanzigern so genannte Superstars hochgezüchtet. Dem Medienrummel mögen sie nicht gewachsen sein – egal. Jeder kennt ihre Gesichter, ihr Privatleben, nichts bleibt verborgen. Am Sonnabend stand Daniel auf Seite 1 von „Bild“. Die Zeitung hatte erfahren, dass der 17-Jährige zwei Jahre lang in einem Erziehungsheim aufgewachsen ist. Christian Körner sagt, man könne die Casting-Teilnehmer psychologisch betreuen, für Interviews schulen, sie davor warnen, den Medien zu viel Privates zu erzählen und ihnen beibringen, Nein zu sagen. Man könne einer „Bild“-Zeitung aber nicht verbieten, auf eigene Faust zu recherchieren und Artikel über die „Superstars“ zu bringen. Wie auch – schließlich bringen sie Auflage, und Berichte über sie locken vor allem die attraktiven, weil werberelevanten, jungen Leser. Und davon könnte auch die „Bild“-Zeitung mehr gebrauchen.

Es gehört zum Konzept der Show, dass die Zuschauer das Gefühl haben, die Kandidaten persönlich zu kennen, sagt Christian Körner. Nur so könnten sich die Zuschauer ein Bild von ihnen machen, sich für einen Favoriten entscheiden und mit ihm fiebern. Ebenfalls zum Konzept gehöre es, dass die Show von Folge zu Folge mehr Dramatik, mehr Emotionen entwickle. Jedes Mal wählen die Zuschauer einen Kandidaten raus. In diesem Moment, sagt Körner, würde sich nunmal die gesamte Anspannung, die die Finalisten über die Woche hinweg angesammelt haben, auf einen Schlag entladen.

Muss man deshalb in Kauf nehmen, dass ein sichtlich überforderter 17-Jähriger einen Heulkrampf bekommt? Weder RTL noch die Produktionsfirma finden, dass sie ihre Fürsorgepflicht verletzt hätten. Beide verweisen auf die Psychologin Juliana Alon, die die Sendung begleitet und sich am Sonnabend um Daniel Küblböck gekümmert habe. „Daniel ist jemand, der seine Gefühle auf der Zunge trägt. Wir kennen das in unserer Gesellschaft nicht mehr, deshalb sind wir von derartigen Reaktionen so überrascht“, sagt sie. Daniel habe sich „sehr schnell wieder gefangen“, daher „brauchen wir uns keine Sorgen zu machen“. Seine Reaktion sei „einer der gesündesten Mechanismen zu reagieren“.

„Glamour pur und Dramatik pur beim Big-Band-Auftritt der Superstars“, jubelte RTL am Sonntag. Bis zu 13 Millionen Zuschauer sahen sich die Show an. Das entspricht 34,8 Prozent Marktanteil. Knapp acht Millionen oder umgerechnet jeder zweite Fernsehzuschauer sah gegen Mitternacht Daniels Nervenzusammenbruch. Vor der Entscheidung hatte Daniel noch gesagt, er würde so gern mal wieder morgens ganz normal aufstehen, zum Briefkasten gehen und nicht Fan-Post, sondern eine Rechnung herausholen. Es scheint, als müsse er für „Deutschland sucht den Superstar“ eine sehr hohe Rechnung zahlen.

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