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In der Lounge des Kibbuz

© Foto: Hotel Shefayim

Shefayim an der Küste Israels: Der Kibbuz, der fit für die Zukunft ist

Ein Kibbuz direkt am Mittelmeer gilt als Vorzeigeprojekt fürs ganze Land. In der Ortsmitte empfängt ein Hotel Touristen. Bei der Orangenernte müssen die nicht mehr helfen.

In den Bäumen zwitschern Papageien. Auf dem Rasen hocken Mütter mit ihren Kleinkindern und machen Yogaübungen, natürlich im Schatten. Auf der großen Wiese, sagt Orit Aki-An, halte sie sich in den heißen Sommertagen am liebsten auf: „Nirgends ist es windiger.“ Zur einen Seite befindet sich ein langgestrecktes Blumenbeet. Auf der anderen Seite geht es zu den Kindergärten. Plural. Es sind inzwischen fünf.

Wohin der Weg, den die Bewohner Shefayims eingeschlagen haben, am Ende führen wird, und wie genau der Kibbuz an der Mittelmeerküste Israels, keine 20 Minuten nördlich von Tel Aviv, einmal aussehen wird, könne keiner mit Gewissheit prognostizieren, sagt Orit Aki-An. Ganz sicher sei jedoch eines: „Unsere Entscheidungen, die wir getroffen haben, die waren richtig.“

Sie haben ja auch lange genug vorher diskutiert. Und vermutlich dieselben Argumente abgewogen wie die Bewohner der übrigen 250 Kibbuzim im Land. Wie wichtig die ländlichen Siedlungen für den Aufbau des Staates waren, gerade für die Erschließung lebensfeindlicher Wüstenregionen, ist unumstritten. Ganz anders die Frage, ob ihr kollektives Wirtschaften noch zeitgemäß ist – und wie radikal man das System ändern kann, ohne dass diese Orte ihre Identität verlieren. Wann hört ein Kibbuz auf, ein Kibbuz zu sein?

Früher kamen jedes Jahr zigtausende Besucher aus dem Ausland, um in einem der Kollektive als Freiwillige bei der Orangenernte zu helfen oder im Speisesaal die Teller zu waschen. Was sie anzog, waren das Gemeinschaftsgefühl und die eigene politische Überzeugung.

Heute kommen wieder Zigtausende, aber nun als Touristen. Die meisten Kibbuzim haben mittlerweile Hotels eröffnet, in denen Reisende für wenige Nächte Station machen und dann weiterziehen können. Entspannen statt Schuften. Der Kibbuz Ginnossar im Norden lockt mit Luxus und Baden im See Genezareth. Im traditionell gebliebenen Kibbuz Tzova bei Jerusalem erfährt man, weshalb dort weiterhin Einheitskleidung getragen wird, und wie jeder in der großen Wäscherei trotzdem seine Socken wiederfindet. In Shefayim lässt sich einer der erfolgreichsten, wohlhabendsten Kibbuzim erleben. Einer, der so beliebt ist, dass seine Bewohner dringend auf die Genehmigung von neuem Bauland hoffen.

Bewohnerin Orit Aki-An gibt gern Auskunft.

© Foto: Jürgen Grosche

Shefayim liegt in Fußnähe zum Meer. Ganz in der Nähe verläuft die Schnellstraße nach Tel Aviv.Es existiert eine direkte Busverbindung in die Metropole. Aber beim Einsteigen "Sch-fajim" sagen, das "e" spricht man nicht mit.

Mehr als 1000 Menschen leben hier in freistehenden, ebenerdigen Häusern mit oft liebevoll gestalteten Gärten, dazu kommen Touristen, die in der Mitte der Siedlung untergebracht werden. Wer im Kibbuz zu Gast ist, begreift schnell, dass vom asketischen Leben von einst wenig übrig geblieben ist. Dafür gibt es einen Wasservergnügungspark mit Riesenrutschen, Pools, Wellenbad und einem Piratenschiff als Kulisse.

Vor zwölf Jahren beschlossen sie den Wandel

Orit Aki-An lebt seit 40 Jahren hier, auf Wunsch führt sie Hotelgäste durch den Kibbuz. Sie kam als junge Lehrerin und wurde schnell Teil der Gemeinschaft. Damals gab jeder sein komplettes Einkommen an den Kibbuz – und erhielt monatlich den gleichen Betrag zum Leben, egal ob Uni-Professor oder Imbissverkäufer. Dazu eine Basisversorgung: kostenlose Kinderbetreuung, Essen im Speisesaal, jeden Oktober fünf neue Hemden und ein Paar Schuhe, im Frühjahr dann neue Sandalen.

Vor zwölf Jahren beschloss die Gemeinschaft in einer Abstimmung, ihr bisheriges System aufzugeben. Das verdiente Geld geht jetzt aufs eigene Konto. Die Häuser sind weiterhin Eigentum des Kibbuz, doch das soll sich ändern. Die Menschen, die aktuell darin wohnen, werden ihre Häuser am Lebensende vererben dürfen, womit diese dann in Privatbesitz übergehen.

Während des Rundgangs durch die Siedlung, vorbei an den Sportplätzen, Parkanlagen und dem kleinen Supermarkt, muss Orit Aki-An ständig grüßen. Jeder kennt hier jeden, abgesehen von den Übernachtungsgästen. Ganz wunderbar sei, sagt sie, dass nun jede Familie ihr eigenes Auto besitzen dürfe. „Früher mussten wir uns in eine Liste eintragen und hoffen, dass gerade ein Gemeinschaftswagen zur Verfügung stand.“

Und noch etwas habe sich geändert. Vor ihren Reformen hätten manche Kibbuzmitglieder verdächtig viel Zeit am Strand verbracht, während der Rest arbeitete. Diese Mitglieder hätten notgedrungen ihr Leben etwas umgestellt, seit nicht mehr jeder automatisch dasselbe verdiene.

Die Vorstellung, die Regeln des Kibbuz zu verändern, habe vielen Bewohnern Shefayims zunächst Angst bereitet, sagt Orit Aki-An. Sie fürchteten, mit der Umstellung ihre Ideale und Wertvorstellungen zu verlieren, vielleicht sogar zu verraten. Und jetzt, da man bereits so vieles umgekrempelt habe, komme man nicht umhin, sich einzugestehen: Vielleicht war der Sozialismus einfach keine gute Idee.

Das Hotel des Kibbuz

© Foto: Hotel Shefayim

Auf den Feldern um die Siedlung betreibt der Kibbuz weiterhin Landwirtschaft, auch die alte Plastikfabrik bleibt in Betrieb. Gleichzeitig ist Shefayim der Hauptsitz von Zebra Medical Vision – dem weltbekannten Start-Up, dessen Technik mithilfe von künstlicher Intelligenz beim Diagnostizieren exotischer Krankheiten hilft.

Das Hotel des Kibbuz war früher eher spartanisch eingerichtet. Dann kam ein neues Management und bemühte sich, auch ein jüngeres Publikum anzusprechen. Im Erdgeschoss gibt es jetzt eine große Lounge mit Wohlfühlsofas und alten Schreibmaschinen als Deko. Einen Gang weiter befindet sich der Gesellschaftsraum für Videospiele, zum Glück hinter einer deckenhohen Glaswand, durch die das Gedudel der Automaten nicht dringt.

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Draußen gibt es ein Volleyballfeld, Tischtennisplatten und bequeme Hängeschaukeln an den Bäumen. Nebenan haben es sich Gäste auf Liegen und Korbsesseln im aufgeschütteten Sand bequem gemacht. Ein himmelblau lackierter Laster dient als Freiluft-Bar. In großen Lettern steht „Enjoy the little things“ an seiner Außenwand. Genieße die kleinen Dinge. Tagsüber werden hier Cappuccini mit Hafermilch getrunken, abends Cocktails.

Vorm Haupteingang des Hotels geht es die Straße rechts runter zum Strand. Er liegt zehn Minuten Fußmarsch entfernt im Inneren eines umzäunten Nationalparks. Ein Hinweisschild am Eingang bittet darum, die hier lebenden Gazellen nicht zu stören. Zunächst muss man einen Hohlweg hinunterlaufen, der aussieht wie die Miniaturausgabe des Grand Canyons, vorbei an violett blühendem Thymian und Weißem Ginster.

Am Strand von Shefayim

© Foto: Sebastian Leber

Unten stößt der Weg auf einen breiten Sandstrand, den man sich so weit man in beide Richtungen gucken kann, bloß mit ein paar Dutzend anderer Badegäste teilt. Die meisten von ihnen sind Israelis. Mit sehr viel Glück lässt sich eine frisch geschlüpfte Grüne Meeresschildkröte beim Krabbeln durch den Sand ins Meer beobachten – in den Sommernächten vergraben die Weibchen hier ihre Eier. Auf dem Rückweg zum Hotel sollte man an einem der Aussichtspunkte Halt machen, die etwas höher direkt am Rand der Klippen liegen.

In den 1930er Jahren, noch vor der Gründung des Kibbuz, befand sich in dieser Gegend ein Anlandepunkt für jüdische Auswanderer, darunter viele, die vor den Nationalsozialisten flohen. Weil die britische Mandatsmacht die Einwanderung unterbinden wollte und deshalb versuchte, große Schiffe von der Küste fernzuhalten, leisteten die jüdischen Bewohner Willkommenshilfe: Sie fuhren in kleinen Booten aufs Meer, nahmen Menschen an Bord, brachten sie zum Ufer und gaben ihnen neue Kleidung, damit die Briten optisch nicht mehr unterscheiden konnten, wer alteingesessen war und wer Neuankömmling.

Im Herbst 1948, während des Unabhängigkeitskriegs, gründete sich der Kibbuz. Die ersten Bewohner waren geflohene Juden aus Polen, Russland und der Ukraine. Orit Aki-An sagt, dies habe sich vor allem beim Essen bemerkbar gemacht. Als später andere Juden dem Kibbuz beitraten oder einheirateten, hätten sich die Hinzugestoßenen gewundert: viel zu wenig Salz im Essen, zu wenig Gewürze und oft zu süß! Es habe gedauert, bis Kompromisse gefunden wurden.

Eine der Erklärtafeln in Shefayim.

© Foto: Sebastian Leber

Quer über das Areal des Kibbuz verstreut stehen heute bunt lackierte Fahrräder an Hecken und Weggabelungen. Sie dienen als historische Infotafeln. Schwarz-Weiß-Bilder zeigen, wie damals der Schulunterricht im Freien stattfand. Wie die Erwachsenen die Acker bestellten und Kutsche fuhren, wie eine kibbuzeigene Turnergruppe für einen Auftritt übte. Als Orit Aki-An dazustieß, hatte man sich schon vom Prinzip verabschiedet, dass die Kinder nicht im Haus ihrer Eltern, sondern gemeinsam in einem Gebäude in der Mitte der Siedlung schliefen. „Auf so etwas hätte ich mich nie eingelassen“, sagt sie. „Wer will denn bitte seine eigenen Kinder nicht bei sich haben?“

Die Krise der Kibbuzim begann in den 1980er Jahren. Sie war getragen von Misswirtschaft und Inflation, aber auch von einer zunehmenden Überalterung, weil die Jungen wenig Interesse an Kollektivwirtschaft auf dem Land hatten und lieber in die Städte zogen.

Das hat sich stark gewandelt, sagt Orit Aki-An. Für ein Grundstück in Shefayim gibt es inzwischen Wartelisten, und da die existierenden Häuser jeweils nur für eine Familie gedacht sind, müssen die Söhne und Töchter derzeit wegziehen, sobald sie eine eigene Familie gründen. Orit Aki-An hat große Hoffnungen, dass die Behörden bald gegensteuern. Ein brachliegendes Areal in der Umgebung soll erschlossen werden, dann kann Schefajim weiter wachsen.

In ihrer Freizeit hat Orit Aki-An in den vergangenen Jahren einen Roman geschrieben, er ist noch unveröffentlicht. Die Handlung spielt in einem Kibbuz, der ebenfalls gerade privatisiert wird, um ihn fit für die Zukunft zu machen. Nur dass sich die Bewohner dort gegenseitig nach dem Leben trachten und versuchen, durch Morde ihren eigenen Anteil bei der umzuwandelnden Gesamtfläche zu vergrößern. "So wild", sagt Aki-An, "ist es hier zum Glück nicht abgelaufen".

Was ist geblieben vom alten Gemeinschaftsleben? Erkennt Orit Aki-An ihr Shefayim noch wieder? Und ob, sagt sie. Alle Entscheidungen werden weiterhin basisdemokratisch getroffen. Für manche braucht es eine einfache Mehrheit, für andere 70 Prozent Zustimmung. „Das ist anstrengend“, sagt sie. „Aber so wollen wir es.“

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