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Das Grundstück von Gunnar Krase im Süden Sachsen-Anhalts ist heute verwildert. Ermittler prüfen, ob es mit dem Verschwinden Inga Gehrickes in Verbindung steht.

© Montage: Tagesspiegel/Schneider | privat (3)

Wer entführte Inga Gehricke?: Das vermisste Mädchen und das leere Verlies

Inga Gehricke verschwand 2015 in Sachsen-Anhalt. Spuren weisen auf schwere Versäumnisse der Ermittler hin – und auf einen Pädophilen in Berlin. Eine Rekonstruktion.

Am Sonnabend, dem 2. Mai 2015, will Familie Gehricke grillen. Den Tag haben die Eltern und ihre vier Kinder auf einem Hof bei Stendal in Sachsen-Anhalt verbracht. Bevor sie nach Hause fahren, möchten sie noch mit Freunden im Garten zu Abend essen. Die Kinder bringen Getränke zum nahen Grillplatz, Victoria Gehricke, die Mutter, kann sie durchs Küchenfenster sehen. Doch gegen 18.45 Uhr bemerkt sie, dass ihre fünf Jahre alte Tochter Inga fehlt. Die Familie sucht den Hof und den angrenzenden Wald ab. Inga bleibt verschwunden.

In den Folgetagen beteiligen sich hunderte Polizisten und Feuerwehrleute an der Suche, Teiche werden abgepumpt, Hubschrauber und Spürhunde eingesetzt. Die örtliche Polizei richtet die Ermittlungsgruppe „Wald“ ein. 40 Beamte gehen Hinweisen aus der Bevölkerung nach. Die Akten werden auf 40.000 Seiten anwachsen.

Inga Gehricke wäre heute 14 Jahre alt. Bei ihrem Verschwinden war sie fünf.
Inga Gehricke wäre heute 14 Jahre alt. Bei ihrem Verschwinden war sie fünf.

© privat

Heute, acht Jahre später, wäre Inga Gehricke 14 Jahre alt. Ob sie noch lebt, ist fraglich. Die Eltern haben längst das Vertrauen in die Stendaler Ermittler verloren. Ihr Vorwurf: Bei der Suche seien gravierende Fehler gemacht worden.

Und es gibt den Verdacht, dass einer entscheidenden Spur nicht nachgegangen wurde.

Der Fall Inga ist ein Rätsel, dessen Anhaltspunkte von Stendal nach Berlin und in ein kleines Dorf im Süden Sachsen-Anhalts führen. Ein Fall, in dem sogar der Vorwurf der Strafvereitlung erhoben wird. Der Tagesspiegel hat mit Beteiligten gesprochen, Akten ausgewertet und die Ermittlungen rekonstruiert. Die Ergebnisse werfen kein gutes Licht auf die lokalen Behörden.

Zufallsfund auf dem Dachboden

Die Spur, die allem Anschein nach vernachlässigt wurde, hängt mit einem Vorfall zusammen, der sich im November 2015, sechs Monate nach Ingas Verschwinden, 110 Kilometer von Stendal entfernt in Berlin ereignet. Im Norden des Bezirks Neukölln steht ein hell gestrichenes, vierstöckiges Mietshaus. Auf dem Dachboden befindet sich damals die Werkstatt eines Handwerkers, der im Haus mehrfach die Woche Reparaturdienste übernimmt. In diesem Text soll er Gunnar Krase heißen.

Weil die Hausbesitzerin Krase für unzuverlässig hält, kündigt sie ihm fristlos und entschließt sich, eigenhändig die Werkstatt auszuräumen. Sie ruft einen Schlüsseldienst, um das schwere Vorhängeschloss zu öffnen. Im Raum dahinter findet sie neben einer Matratze und einem Fernseher mehrere lebensechte, selbstgebastelte Sexpuppen, die Kleinkindern nachempfunden sind. Außerdem Fotos, einsortiert in Klarsichthüllen in einem Ringbuchordner. Sie zeigen schweren sexuellen Missbrauch von Kindern. Die Hausbesitzerin ruft die Polizei.

Die Ermittler finden später auch einen Laptop, auf dessen Festplatte dutzende weitere Bilddateien mit Missbrauchsdarstellungen gespeichert sind, einige zeigen den sexuellen Missbrauch von Babys. Die Dateien hat der Handwerker in einem Ordner namens „xxxs“ gesammelt: „extra extra extra small“ – „ganz, ganz, ganz klein“. Zwei Tage nach der Entdeckung der Sexpuppen wird Krase festgenommen.

Krase ist damals Anfang 30, gelernter Handwerker, seit vier Jahren in Berlin. Geboren und aufgewachsen ist er in Stendal – der Stadt, in deren unmittelbarer Nähe Inga verschwand. In seiner Vernehmung erklärt er, ihn quälten seit Jahren Missbrauchsfantasien. Seit spätestens Anfang 2015 entwickle er immer konkretere Pläne, diese auch umzusetzen.

Krase möchte ein kleines Mädchen entführen, an einem abgelegenen Ort einsperren und sexuell missbrauchen. Das Kind, so stellt er es sich vor, solle etwa sieben Jahre alt sein.

© Rita Böttcher

In Berlin steht er mehrfach vor Grundschulen, um auszuspähen, ob die Mädchen dort seinen Wunschvorstellungen entsprechen. Unter anderem lauert er vor der Eduard-Mörike-Grundschule in Neukölln sowie der Blumen- und der Justus-von-Liebig-Grundschule in Friedrichshain. Krase entwickelt ein Bewertungssystem: Er vergibt ein bis vier Sterne pro Schule, je nachdem, wie gut ihm die Mädchen gefallen, und hält dies in einem Notizbuch fest. Die Pläne, ein Kind zu entführen und zu missbrauchen, werden im Laufe des Jahres 2015 zu seinem zentralen Lebensinhalt.

Kabelbinder und Pfefferspray

Auf dem Dachboden des Neuköllner Mietshauses stellen die Ermittler außerdem einen gepackten Rucksack sicher. Darin befinden sich Utensilien für die Umsetzung der Tat: Handschuhe, um am Ort der Entführung keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Sechs Kabelbinder als Fesselwerkzeug. Ein Pfefferspray, falls das Kind Widerstand leistet. Klebeband für den Mund, um es am Schreien zu hindern.

Sind Ingas Verschwinden und Krases Pläne verbunden? In der Vernehmung behauptet er, den Fall zwar aus den Medien zu kennen, Inga jedoch nie begegnet zu sein. Er habe weder sie noch ein anderes Mädchen missbraucht. Sein Vorhaben, ein Kind zu entführen, sei zwar weit fortgeschritten gewesen, er habe es jedoch nicht umgesetzt. Für den Tag von Ingas Verschwinden hat er zudem ein Alibi. Aus Ermittlerkreisen heißt es, dieses Alibi sei überaus fragwürdig. Die Person, mit der er sich am Tattag getroffen haben will, könne sich nicht sicher daran erinnern.

Steht Ingas Verschwinden in Verbindung mit Krases Plänen? In der Vernehmung gab er an, ihren Fall aus den Medien zu kennen, ihr aber nie persönlich begegnet zu sein.
Steht Ingas Verschwinden in Verbindung mit Krases Plänen? In der Vernehmung gab er an, ihren Fall aus den Medien zu kennen, ihr aber nie persönlich begegnet zu sein.

© Polizeidirektion Sachsen-Anhalt Nord/dpa

Gegen Krase wird ein sogenannter Unterbringungshaftbefehl erwirkt. Ein psychiatrisches Gutachten bescheinigt ihm einen „fortschreitenden Persönlichkeitszerfall“ und eine massive, stetige Zuspitzung seiner Entführungsfantasien. In absehbarer Zeit sei mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er in Freiheit Kinder misshandeln würde, heißt es in dem Befund. Er leide an einer gemischten Persönlichkeitsstörung, die „multiple Störungen der Sexualpräferenz“ beinhalte. Bis heute befindet sich Krase im Maßregelvollzug.

Seine „polymorph pervers gestörte Sexualität“ spiegele sich auch in seiner Biografie, heißt es in der Begründung weiter. Mit elf Jahren verliebt er sich in die zwei Jahre jüngere Schwester, hat wiederholt Oralverkehr mit ihr. Als sie Jahre später ihren ersten Freund hat, frustriert ihn das. Er will nicht auf Sex mit seiner Schwester verzichten. Der Gutachterin zufolge entwickelt Krase eine „Obsession für das Kindliche, Reine, Unschuldige“ und für mädchenhaft-kindliche Gesichtszüge, vor allem Stupsnasen.

Im Alter von 20 Jahren erkrankt Krase zudem an Psychosen. Zweimal wird er stationär wegen „depressiver, rezidivierender Störungen, Zwangsgedanken und ängstlicher Phobien“ behandelt. Beim zweiten Aufenthalt diagnostiziert der Arzt eine Pädophilie.

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Die Klinik, in der Gunnar Krase mehrere Monate verbringt, befindet sich in genau dem Waldgebiet, in dem Jahre später Inga verschwinden wird. Keine drei Kilometer Luftlinie trennen Klinik und Tatort.

Die vernachlässigte Spur

Die Missbrauchsfantasien und der gleichzeitige Vorsatz, ihnen nicht nachzugehen, führen jahrelang zu inneren Spannungen, so gibt es Krase in einer Vernehmung an. Um diese zu betäuben, nimmt er Ketamin, eigentlich ein Tiernarkose-Medikament. Dazu trinkt er viel Wodka, versucht es mit Marihuana, Speed und Ecstasy.

In dieser Phase hat er einmal ein Gespräch mit dem Leiter einer Spezialambulanz für Pädophile. Dort erzählt er von den Kleinkind-Puppen, die er zum Sex benutzt. Er fragt, ob dies strafbar sei. Das ist es damals noch nicht. Von seinen Plänen, ein kleines Mädchen zu entführen und zu missbrauchen, erzählt Krase nicht. 2015 beginnt er eine Einzeltherapie, verschweigt diesmal aber seine pädophilen Neigungen. Dem Therapeuten, den er einmal in der Woche sieht, sagt er, sein Problem sei, dass er nur Frauen mit Stupsnasen lieben könne.

Die Sexpuppen, die Krase auf dem Neuköllner Dachboden anfertigt und lagert, sehen zunächst wie Schulmädchen aus. Ab 2015 baut er nur noch deutlich jünger aussehende Modelle. Einem zieht Krase einen rosafarbenen Badeanzug an, fixiert die Arme mit Draht auf dem Rücken, im Schritt platziert er eine Kunststoffvagina. Diese Puppe legt Krase auf eine Matratze und penetriert sie. Dem Tagesspiegel liegen Fotos der Puppen vor. Als Polizeibeamte Krases Werkstatt durchsuchen, finden sie auch Abgussformen für die Herstellung weiterer Puppen, eine Tüte mit Kinderperücken und getragene Kinderunterwäsche.

In seiner Vernehmung gibt Krase an, er habe die Puppen gebaut und zur Masturbation benutzt, weil er keine echten Mädchen vergewaltigen wollte.

Seine Freundin warnt ihn vor der Polizei

Damals hat Gunnar Krase eine feste Freundin. Sie ahnt nichts von seinen Neigungen. Als die Polizei im November 2015 die Missbrauchsdarstellungen auf dem Dachboden findet, ist das Paar seit vier Jahren zusammen. Die Freundin erfährt als Erste von der Durchsuchung und warnt Krase, dass die Polizei nach ihm suche.

Daraufhin verabredet sich Krase mit einer Bekannten, erzählt ihr von seiner Pädophilie und dass die Polizei seine Puppen gefunden hat. Die Bekannte sagt später bei einer Vernehmung aus, Krase habe ihr bei dem Treffen erzählt, er werde von den Ermittlern jetzt wegen „dem Fall lnga“ gesucht. Allerdings sei Inga bereits tot, habe er erklärt – und dass die Polizei am falschen Ort suche. Weshalb Krase dies wisse, habe er nicht gesagt. Allerdings habe er behauptet, nicht selbst die Tat verübt zu haben, sondern von einem „glücklichen Finder“ gesprochen. Und dass er diese Person beneide, da er selbst so gern ein Kind entführen würde.

2016 wird Krase in Berlin wegen Besitzes von kinderpornografischen Schriften und dem Handel mit Betäubungsmitteln der Prozess gemacht. Außerdem schickt die Berliner Staatsanwaltschaft die gesamten Ermittlungsakten nach Stendal, mit dem dringenden Hinweis zu prüfen, ob Krase Inga Gehricke entführt haben könnte. Inzwischen ist klar: Dies geschah nicht in ausreichendem Maße.

Nach monatelangem Stillstand beschließen die Behörden in Stendal 2019, eine neue Ermittlungsgruppe einzurichten, die die bisher geleistete Arbeit prüft und alternative Ermittlungsansätze erarbeitet. Doch dazu kommt es nicht. Praktisch über Nacht wird die geplante Ermittlungsgruppe in eine „Prüfgruppe“ umgewandelt. Sie sieht sich nicht mehr den gesamten Fall an, sondern soll lediglich dem Verdacht nachgehen, ob ein Zusammenhang zwischen dem Verschwinden von Inga Gehricke und dem Fall des 2007 in Portugal verschwundenen britischen Mädchens Maddie McCann besteht, in dem ein Deutscher verdächtigt wird. Weshalb die Einsetzung der Ermittlungsgruppe kurzfristig verhindert wurde, ist unklar. Eine Anfrage des Tagesspiegels beantwortet weder die Stendaler Polizei noch die dortige Staatsanwaltschaft.

Die stattdessen ins Leben gerufene Prüfgruppe kommt nicht einmal dazu, die Akten zu lesen: Nach elf Tagen wird sie aufgelöst. Ihr Abschlussbericht wird zunächst auch behördenintern unter Verschluss gehalten. Der wahrscheinliche Grund dafür ist mittlerweile klar. Der Leiter der Prüfgruppe betont in seinem Abschlussbericht, dass ihm „die Umstände dieser Prüfgruppe mehr als suspekt erscheinen“. Er bezweifelt auch seine eigene Qualifikation, da er noch nie in einer Mordkommission mitgearbeitet habe. Dennoch sei auf seiner Einsetzung bestanden worden.

„Eine Pro-Forma-Arbeitsgruppe“

Für Ingas Eltern ist das Vorgehen der Stendaler Polizei und Staatsanwaltschaft unverständlich. Ein Unterstützerkreis aus Freunden, Anwälten und Privatdetektiven fordert Aufklärung und weitere Nachforschungen. Sie suchen auch selbst nach Hinweisen, haben dafür die Internetseite inga-suche.de gegründet.

Teil dieses Kreises ist der Berliner Anwalt Steffen Tzschoppe, der auch Ingas Bruder, heute Anfang 20, vertritt. Am Telefon sagt Tzschoppe, bei der Stendaler Prüfgruppe von 2019 habe es sich um eine „Pro-Forma-Arbeitsgruppe“ gehandelt, deren einziges Ziel es gewesen sei, ihre Arbeit schleunigst wieder einzustellen. „Ich habe den Eindruck, dass man sich dort vorrangig nicht mehr der Wahrheitsfindung, sondern der Schadensbegrenzung verpflichtet fühlt.“

Der Berliner Anwalt Steffen Tzschoppe.
Der Berliner Anwalt Steffen Tzschoppe.

© Kseniia Apresian für den Tagesspiegel

Eine Person, die mit den Ermittlungen in Stendal sehr vertraut ist, aber aus Sorge vor Repression anonym bleiben muss, stimmt Tzschoppe zu. Die Überprüfung sei sabotiert worden, um den eigenen Misserfolg und die begangenen Fehler zu verdecken. Gegenüber dem Tagesspiegel erklärt diese Person: „Ein Einblick von außen sollte unbedingt verhindert werden.“ Unter anderem würde sonst auch herauskommen, dass Gutachteraufträge falsch vergeben wurden.

Laut Tzschoppe beinhalten die Akten, die die Berliner Staatsanwaltschaft nach Stendal schickte, 1800 Seiten. Akribisch hätten die Berliner Ermittler darin die Verbindungen zu Krase dokumentiert. Doch diese Akten seien in Stendal bis heute nicht ausgewertet und zudem der Prüfgruppe vorenthalten worden: „Diese Spur ist schlicht ignoriert worden.“ Das Vorgehen habe ihn erschüttert, sagt Tzschoppe. „Es ergeben sich umfangreiche Ermittlungsansätze aus dieser Akte, die bisher alle nicht verfolgt wurden. Diese könnten endlich zur Aufklärung des Falls Inga führen.“

Denn in Gunnar Krases Plänen findet sich noch eine weitere Spur nach Sachsen-Anhalt.

Für seine geplante Entführung benötigte Krase einen abgelegenen Ort, an dem er das Mädchen seiner Wahl würde einsperren können. Der Ort, der ihm vorschwebte, liegt zwei Autostunden südwestlich von Berlin. Am Eingang eines Dorfes in Sachsen-Anhalt hat sich Krase 2013, zwei Jahre vor seiner Festnahme, ein kleines Grundstück mit einem Einfamilienhaus gekauft.

Gunnar Krase hat die Fenster seines Hauses zugemauert – wie in einem Gefängnis.
Gunnar Krase hat die Fenster seines Hauses zugemauert – wie in einem Gefängnis.

© privat

Wer heute in das Dorf fährt, findet die Parzelle verwildert vor, die weiße Fassade bröckelt. Von der Straßenseite sieht man zwei Fenster mit Vorhängen. Aus der Nähe erkennt man, dass es dahinter nicht weitergeht. Krase hat die Fenster zugemauert – wie in einem Gefängnis.

25.000 Euro kostet Krase das Grundstück. Nach dem Kauf hält er sich immer wieder tageweise dort auf, nimmt Umbauten vor. Es liegt 95 Kilometer von dem Ort entfernt, an dem die 5-jährige Inga verschwindet.

Krase sichert das Haus mit einer Alarmanlage. Den Garten umzäunt er blickdicht. Am südlichen Ende, acht Meter vom Haupthaus entfernt, befindet sich ein Unterstand aus Holz, der früher als Pferdefutterstelle diente. Darin ist eine Luke. Eine Holztreppe führt in einen unterirdischen Raum. Noch heute sieht es dort so aus.

Dieses Loch diente als Eingang ins unterirdische Verlies.
Dieses Loch diente als Eingang ins unterirdische Verlies.

© privat

In weiteren Notizen, die die Polizei bei Krase findet, sind potenzielle Orte für eine Entführung festgehalten. Krase hat überlegt, ob er ein Mädchen auf dem Schulweg, auf dem Parkplatz eines Schwimmbads oder vor einem Supermarkt entführen soll. Er hat vermerkt, wo sich Überwachungskameras befinden, wo mit vielen Menschen zu rechnen ist und von welchem Ort aus der Transport seines Opfers in sein Verlies kompliziert werden könnte.

Für die Entführung will sich Krase mit einer Flasche in einem Gebüsch verstecken, in die er notfalls urinieren will, um am Tatort keine Spuren zu hinterlassen. Für den Fall, dass das Kind keine Ruhe gibt, will er ihm Ketamin spritzen.

In seiner Vernehmung wird Krase der Polizei erklären, er habe täglich Entführungsfantasien, bringe es aber nicht übers Herz. Für den Fall Inga habe er sich interessiert, weil „es jemand geschafft hat, dieses Mädchen zu entführen und mit dem Mädchen machen kann, was er will; Mensch, da hat jemand das gemacht, was ich machen will“.

Von Sommer 2013 bis Frühjahr 2014 betreibt Krase auf seinem Grundstück eine Cannabisplantage. Die Ermittler glauben, er habe insgesamt fünf Kilogramm angebaut und verkauft. Krase behauptet, es sei deutlich weniger gewesen. Wegen des unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln wird er in Berlin zu einem Jahr und fünf Monaten verurteilt, wegen Besitzes kinderpornografischer Schriften zu 110 Tagessätzen à fünf Euro. In letzterem Verfahren betont Krase vor Gericht, er sei zwar psychisch krank, pädophil und behandlungsbedürftig, habe seinem Trieb jedoch nie nachgegeben.

Heute ist Krases Grundstück im Süden Sachsen-Anhalts verwildert.
Heute ist Krases Grundstück im Süden Sachsen-Anhalts verwildert.

© privat

Doch auch nach dem Absitzen seiner Strafe darf Krase nicht mehr in die Freiheit. Laut Gericht ist mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass er dort Straftaten begehen würde. Im Maßregelvollzug nimmt Krase Medikamente, die seinen Sexualtrieb hemmen sollen.

Neue Ermittler übernehmen

Steffen Tzschoppe, der Berliner Anwalt, hat sich mittlerweile an die Landesregierung von Sachsen-Anhalt gewandt. In mehreren Schreiben forderte er die Innenministerin auf, die Ermittlungen wieder aufzunehmen. Tatsächlich ist das kürzlich geschehen. Sämtliche Akten wurden von Stendal nach Halle gebracht. Fünf Beamte widmen sich jetzt dort dem Fall. Die Akten werden zudem digitalisiert, um eine neue Fallbearbeitungssoftware einsetzen zu können. Von Fehlern der Stendaler Ermittler will das Ministerium jedoch nicht sprechen. Gegenüber dem Tagesspiegel erklärt es: „Hinweise zu unzureichenden Ermittlungen und fehlenden Ermittlungswillen gibt es nach derzeitigem Kenntnisstand nicht.“

Mehrfach waren der Fall Inga und mögliche Ermittlungspannen bereits im Innenausschuss des Landtags Thema. Tzschoppe sagt, er sei froh, dass die Ermittlungen nicht weiter von Polizei und Staatsanwaltschaft in Stendal geführt würden. Bei den dort Zuständigen sei schon lange kein Ermittlungswille mehr erkennbar gewesen. Für ihn stehe sogar der Tatbestand der Strafvereitlung im Raum.

Ingas Mutter Victoria sagt, sie sei fassungslos und wütend darüber, wie nachlässig in Stendal mit der Spur zu Gunnar Krase umgegangen wurde. Trotz der Hinweise aus Berlin, trotz der übersandten Akten. Ihr Bedürfnis zu wissen, was mit ihrem Kind geschah, habe mit den Jahren nicht abgenommen. Victoria Gehricke hofft, dass das neue Ermittlerteam in Halle sie von der Ungewissheit befreit.

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