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European Focus #13: Weihnachten: Zeit des Friedens?

+++ Wo ist das Jesuskind? +++ Melonis weihnachtlicher Kreuzzug +++ Die extreme Rechte und der „Krieg gegen Weihnachten“ +++ Zahlen der Woche: 80 und 66 +++ UK: Mehr freie Tage für alle Glaubensrichtungen +++

Hallo aus Berlin,

dies ist die letzte Ausgabe unseres Newsletters vor der Winterpause. Stehen für Sie Festtage an, feiern Sie etwas? Ich weiß spontan, dass mindestens zwei Mitglieder unseres European-Focus-Teams keine Weihnachten feiern werden. Für andere bahnt sich „the most wonderful time of the year“ an. 

Ist es wichtig oder gar notwendig, dass in einer Gesellschaft gemeinsame religiöse Feste begangen werden? Und was, wenn einige Menschen innerhalb der Gesellschaft diese Feste nicht feiern? Die Frage, wie und auf welche Weise religiöse Feste öffentlich sichtbar sein sollten, war in den vergangenen Jahren immer wieder Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Im Gegensatz dazu könnte man sich allerdings auch eine Gesellschaft vorstellen, in der das Begehen von Festen unterschiedlicher Religionen eine Bereicherung für alle ist, wie unser Kollege aus Großbritannien schreibt.

Letztendlich ist die Frage: Wie finden wir eine Basis und Gemeinsamkeiten in unserer Gesellschaft? Religiöse Feste sollten für diejenigen, die sie begehen, ein Quell der Freude, der Erholung und des Glücks sein. Ob man diese Feste feiert oder nicht, muss aber immer eine individuelle Entscheidung sein. Teresa Roelcke

dieswöchige Chefredakteurin

Wo ist das Jesuskind?

Können Sie sich eine Weihnachtskrippe ohne Maria, Josef und sogar ohne Jesus vorstellen? Genau dies gibt es aktuell in der französischen Kleinstadt Beaucaire zu bestaunen. Der Bürgermeister will damit das rund 100 Jahre alte französische Laizismus-Gesetz umgehen. Dieses verbietet das Ausstellen von religiösen Symbolen – beispielsweise eines Neugeborenen in einer Krippe – in öffentlichen Gebäuden. Damit soll die Neutralität des öffentlichen Dienstes gewahrt werden. Nachdem die Gemeinde bereits mehrfach verurteilt wurde, hat sie dieses Jahr beschlossen, erneut eine Krippe im Rathaus aufzustellen, allerdings ohne die bekannten Hauptfiguren.

„Sie verklagen uns drei bis vier Mal im Jahr, und das nur wegen dieser schönen Kulturausstellung. Was für Prioritäten haben diese Leute eigentlich?“, beschwert sich der Bürgermeister. „Diese Leute“ sind die Beamten der Präfektur, die lokalen Vertreter des französischen Staates, die die Gemeinde Beaucaire tatsächlich regelmäßig verklagen, weil sie das staatliche Säkularismus-Gebot nicht respektiert.

Seit den Kommunalwahlen vor knapp zehn Jahren hat eine Reihe neugewählter rechtsradikaler Bürgermeister beschlossen, immer wieder Krippen in ihren Rathäusern aufzustellen und diese so zu einem Kampfgebiet zu erklären. In ihren Augen handelt es sich bei den Krippen nicht um ein religiöses Symbol, sondern um eine Kulturtradition. Die Rechten sind bei ihrer Interpretation des Säkularismus allerdings sehr flexibel: Wenn es darum geht, den Bau einer Moschee zu verbieten, sind sie die eifrigsten Verfechter der Neutralität. Verstöße gegen die Laizismus-Gesetze in Form von christlicher Symbolik werden hingegen akzeptiert oder selber forciert. 

Robert Ménard, der Bürgermeister von Béziers, der den Trend zu Krippen in Rathäusern ausgelöst hatte, wurde inzwischen nicht nur wegen Missachtung der Laizismus-Gesetze verurteilt, sondern 2017 auch wegen „Aufstachelung zum Hass“. Er hatte behauptet, in den städtischen Schulen gebe es zu viele muslimische Kinder.

Der Kampf um die Krippen entstammt nicht aus der Liebe für das Weihnachtsfest, wie einige rechte Bürgermeister uns weismachen wollen. Vielmehr sind sie Teil einer rechtsextremen und islamophoben politischen Agenda.

Nelly Didelot arbeitet im Auslandsressort von Libération in Paris. Sie befasst sich mit Mittel- und Osteuropa sowie mit Umweltthemen.

Melonis weihnachtlicher Kreuzzug

Vorweg: Die Europäische Union hat nicht versucht, Weihnachten zu „canceln“. Dies wurde von der italienischen Rechten vor gut einem Jahr behauptet. In ihrem Einsatz für Tradition (und Propaganda) führte Giorgia Meloni ihren persönlichen Kreuzzug gegen Ursula von der Leyen. Damals, als die Chefin der rechtsradikalen Fratelli d’Italia noch nicht Ministerpräsidentin war, ließ sie in einem an die EU-Kommissionspräsidentin gerichteten Tweet wissen: „Es reicht! Unsere Geschichte und unsere Identität können nicht ausgelöscht werden.” 

Wollte die deutsche Christdemokratin von der Leyen tatsächlich das Weihnachtsfest entweihen? Nein; in Brüssel gab es keinerlei Bestreben, das Fest „auszulöschen“, wie Meloni vermutete. Stattdessen hatte die EU-Kommission lediglich interne „Leitlinien für integrative Kommunikation“ ausgearbeitet, in denen sie vorschlug, dass ihre Beamten „nicht davon ausgehen sollten, dass alle Menschen Christen sind. Nicht jeder feiert die christlichen Feiertage. Seien Sie sensibel für die Tatsache, dass die Menschen unterschiedliche religiöse Traditionen und Kalender haben.“ Daher sei es gegebenenfalls besser, von „Ferienzeit“ statt von „Weihnachtszeit“ zu sprechen.

Der Aufschrei der italienischen Rechten und ihr folgender Kampf gegen die verhasste „Political Correctness“ hatte Erfolg: Die Europäische Kommission zog das Dokument zurück.

Francesca De Benedetti berichtet für die Zeitung Domani aus Rom über europäische Politik und Auslandsnachrichten.

Die extreme Rechte und der „Krieg gegen Weihnachten“

Lorenz Blumenthaler ist Pressesprecher der Amadeu Antonio Stiftung, die sich gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus einsetzt.

In Deutschland wurde in den vergangenen Jahren mehrfach über Märkte diskutiert, die sich „Wintermärkte“ statt „Weihnachtsmärkte“ nennen. Warum können derartige Veranstaltungen, die wenig mit dem religiösen Fest gemeinsam haben, eine derart hitzige Debatte auslösen?
Es gibt da ein rechtes Narrativ, das jedes Jahr wieder aufgewärmt wird und vor einem „Krieg gegen Weihnachten“ warnt. Mit diesem Krieg werde eine angebliche „Islamisierung“ des Westens vorangetrieben. Dies spiegele sich dann in der Umbenennung, Abschaffung oder Ersetzung gängiger „Traditionen“ wider. Das wird als Geste der Unterwerfung gegenüber der „Islamisierung“ gelesen. Letztendlich handelt es sich dabei um eine antimuslimische Verschwörungserzählung, die hauptsächlich dazu dient, Angst vor Muslimen in Deutschland zu schüren.

Woher kommt dieses Narrativ?
Der Ursprung liegt in den USA. Schon im frühen 20. Jahrhundert verbreitete der Automobilunternehmer Henry Ford antisemitische Publikationen, in denen er behauptete, die Weihnachtstraditionen würden von Juden unterdrückt und eingeschränkt. Die moderne Debatte wurde weitgehend von der amerikanischen Alt-Right vorangetrieben. Seit 2004 ist der „Krieg gegen Weihnachten“ beispielsweise fest im Repertoire des Fox News-Moderators Bill O’Reilly, und auch der frühere US-Präsident Donald Trump griff das Narrativ während seines Wahlkampfs 2015 auf.
Der „Krieg gegen Weihnachten“ fiel bei der deutschen Rechten auf fruchtbaren Boden. Vor allem Mitglieder der AfD versuchen jedes Jahr, angebliche Umbenennungskampagnen zu skandalisieren. In ihren Augen ist Deutschland verloren, wenn Discounter „Winterdeko“ statt „Weihnachtsdeko“ verkaufen. Nimmt man das ernst, gewinnt man den Eindruck, dass das selbsterklärte „christlich-jüdische Abendland“ vor allem an der Front der Adventskalender verteidigt wird. Das einzige Ziel dieser Kampagnen ist es, Hetze gegen Muslime zu verbreiten.

Dieses Jahr hielt sich die Debatte um den angeblichen „Krieg gegen Weihnachten“ jedoch in Grenzen und war nicht sehr prominent. Woran liegt das?
Inflation, eine globale Pandemie, der russische Angriffskrieg, die Energiekrise und Geflüchtete aus der Ukraine… Wer braucht da als Rechter noch einen „Krieg gegen Weihnachten“? Wahrscheinlich bereiten all diese Krisen und Problematiken schon mehr als genug Boden für das Verbreiten von hasserfüllter und rassistischer Ideologie.

Farangies Ghafoor ist Datenjournalistin und berichtet für den Tagesspiegel aus Berlin über Gesundheits- und Lifestyle-Themen.

Zahlen der Woche: 80 dB, 66 m

Nordmazedonien ist mit wunderschönen orthodoxen Kirchen und Moscheen gesegnet. Doch manchmal spielt sich Religion in diesem offiziellen säkularen Land zu sehr in den Vordergrund im öffentlichen Raum.

So überragt ein 66 Meter hohes orthodoxes Kreuz die Hauptstadt Skopje. Dieses Kreuz, das 2002 zum Gedenken an zwei Jahrtausende Christentum erbaut wurde, weckt bei einigen Bürgerinnen und Bürgern Stolz. Für andere – unter anderem für viele Muslime, die in Skopje leben – ist es hingegen ein Paradebeispiel für einen (christlichen) Größenwahn.

Doch auch die zweitgrößte Religion, der Islam, zieht Kritik auf sich. So haben sich Menschen über die Muezzin-Rufe über die Lautsprecher der Moscheen beschwert. Ich selbst habe während eines Nachmittagsgebets in der Gemeinde Cair in Skopje 80 Dezibel gemessen. Der gesetzliche Grenzwert liegt bei lediglich 45 Dezibel.

Siniša-Jakov Marusic ist Journalist in Skopje. Er schreibt für Balkan Insight, vor allem über Rechtsfragen in der Balkan-Region.

UK: Mehr freie Tage für alle Glaubensrichtungen

„Ich habe eine Botschaft an Liz Truss: Wir arbeiten hart. Wir haben die längsten Arbeitszeiten in Europa,“ sagte die Generalsekretärin des britischen Gewerkschaftsbunds (TUC), Frances O’Grady, auf einer Konferenz im Oktober. Sie bezog sich dabei auf eine geleakte Tonaufnahme der ehemaligen britischen Premierministerin, in der Truss von den britischen Beschäftigten „ein bisschen mehr harte Arbeit“ erwartete.

Tatsächlich haben britisch Arbeitnehmer im europäischen Vergleich sehr wenige gesetzliche Feiertage (hierzulande als bank holidays bezeichnet, da sie ursprünglich ausschließlich für Bankangestellte galten).

O’Grady und andere Gewerkschaftsführer fordern neue bank holidays, um die britische Arbeiterschaft zu entlasten und zu würdigen. Dies eröffnet auch eine ganz andere Chance, vor allem im Licht der Daten aus der Volkszählung 2021 des Office for National Statistics, die die ethnische und religiöse Vielfalt des Vereinigten Königreichs belegen.

Angesichts der vielfältigen Kulturen im Melting Pot UK sollten Arbeiterinnen und Arbeiter aller Konfessionen die gleiche Gelegenheit bekommen, ihre religiösen Feiertage mit ihren Familien zu feiern – von Ramadan bis Diwali, von Chanukka bis Vaisakhi – wie Christen die ihren.

Alle britischen Beschäftigten, ob nun religiös oder nicht, brauchen mehr freie Tage. Vielleicht könnte diese Zeit genutzt werden, um mehr über die verschiedenen Communities und Kulturen im Land zu erfahren. Der Black History Month war in dieser Hinsicht ein guter Anfang.

Ein weiteres Element, das ein solches Szenario begünstigen könnte, ist die Monarchie: König Charles III. hat von seiner Mutter Elizabeth unter anderem die Position als Oberhaupt der Kirche von England geerbt. Bereits 1994 bezeichnete er sich selbst als „Verteidiger aller Glaubensrichtungen“ und will bei seiner offiziellen Krönung im Mai 2023 alle Konfessionen anerkennen.

In einer Zeit, in der die Gräben tief sind und die sozialen Spannungen zunehmen, würden neue Feiertage, an denen sich alle Britinnen und Briten erholen und Zeit mit ihren Familien verbringen, während sie sich außerdem austauschen und etwas über andere Bevölkerungsgruppen lernen, dem Kaleidoskop der Kulturen, Religionen und Traditionen, die das heutige Vereinigte Königreich ausmachen, gerecht werden.

Angelo Boccato ist freiberuflicher Journalist in London. Er schreibt unter anderem für das Columbia Journalism Review, The Independent und Open Democracy.

Danke, dass Sie die 13. Ausgabe von European Focus gelesen haben,

und dass Sie mit uns durch dieses sensible und umkämpfte Gebiet gewandert sind: Weihnachten als ein Fest, das nicht selten politisch instrumentalisiert wird.

Denjenigen unter unseren Leserinnen und Lesern, die Weihnachten feiern, wünschen wir ein frohes Weihnachtsfest. Denjenigen, die nicht feiern, wünschen wir erholsame Ferientage.

Ihnen allen wünschen wir ein Frohes Neues Jahr voller Frieden, Freude und Gesundheit.

Wir melden uns am 11. Januar mit der nächsten Newsletter-Ausgabe zurück.

Teresa Roelcke

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