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Rettungsteams und ein hydralischer Kran tragen die Ruinen einen eingestürzten Wohnhauses ab. Noch weiß niemand, wie viele Menschen unter den eingedrückten Stockwerken überlebt haben könnten.

© dia images via Getty Images / Dia Images

Nach dem Erdbeben: Das Misstrauen der Kurden gegenüber dem türkischen Staat

In Diyarbakir warten die Menschen noch immer vergeblich auf Lebenszeichen von ihren Angehörigen. Der Unmut wächst.

„Verbote, Verbote, was sind das für Verbote?“, schreit eine Frau über das Polizeigitter an einer Hauptverkehrsstraße von Diyarbakir hinweg einen vermummten Polizisten an, der betreten schweigt. „Irgendjemand muss uns doch irgendwann etwas sagen!“, fügt sie verzweifelt hinzu.

Das Gitter riegelt die Einsturzstelle des Galeria-Wohnturms ab, einer Wohnanlage mit 36 Apartments an den römischen Stadtmauern der Kurdenstadt in Südostanatolien. Vor den Resten des eingestürzten Gebäudekomplexes und anderen Trümmerbergen in Diyarbakir warten Verwandte von Erdbebenopfern auf eine Nachricht der Bergungsteams – selbst hingehen und helfen dürfen sie nicht, sie werden von Polizisten zurückgedrängt.

So bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich in den kalten Nächten an Holzfeuern vor den Absperrungen zu wärmen, bis ihnen jemand mitteilt, ob ihre Angehörigen tot sind oder leben.

Fast 300 Menschen sind in Diyarbakir bei dem Erdbeben ums Leben gekommen, hunderte Häuser sind eingestürzt oder so schwer beschädigt, dass sie unbewohnbar sind. Dabei hatte sich die Stadt noch nicht von den letzten Zerstörungen erholt: Vor sieben Jahren hatten monatelange Straßenkämpfe zwischen der türkischen Armee und der kurdischen Terrororganisation PKK große Teile der Innenstadt verwüstet.

Jetzt hat das Beben wieder Zehntausende obdachlos gemacht. Zwei Zeltstädte sind in der Innenstadt aufgebaut worden, ein weiteres mit mehr als 4000 Zelten entsteht am Stadtrand.

Schlafend in der Moschee

Trotzdem reichen die Kapazitäten nicht. In der großen Moschee von Diyarbakir, die auf das Jahr 639 und die arabische Eroberung der Stadt zurückgeht, liegen am Sonntagmorgen schlafende Gestalten unter Decken auf dem Teppich, während sich andere Erdbebenopfer am Brunnen im Vorhof waschen.

Zum Leid, das alle Überlebenden und durch das Erdbeben obdachlos gewordenen Menschen teilen, kommt in Diyarbakir der Kurdenkonflikt hinzu: Die Stadtverwaltung misstraut den Bürgern, weil sie viele als Anhänger der PKK betrachtet, während viele Einwohner die Administration ablehnen. Denn Diyarbakir steht unter Zwangsverwaltung der türkischen Zentralregierung. Es gibt keine Verständigung zwischen Bürgern und den Behörden, die ihnen helfen sollen.

Seit fast einer Woche stehe sie nun hier, sagt die Frau am Polizeigitter, die Ayse heißt und 62 Jahre alt ist. In dem zerstörten Galeria-Wohnturm lebte ihr Bruder mit seiner Frau und zwei Kindern, ihre Nichte und ihr Neffe. Sie weiß nicht, was aus ihnen geworden ist.

Zum Gouverneursamt und zum Landrat sei sie zwischendrin gelaufen, habe überall um Information gebettelt, aber niemand wolle ihr etwas sagen. Die Staatsgewalt halte sie von der Unglücksstelle fern, und gesagt werde ihnen kein Wort, sagen auch die anderen umstehenden Angehörigen.

Ein Mann wartet auf Nachrichten über seine in einem eingestürzten Wohnhaus verschütteten Verwandten.

© AFP/ILYAS AKENGIN

Ein dicht gedrängtes Häuflein Unglück bilden die Angehörigen, eingewickelt in dunkle Wintermäntel, die Frauen tragen Kopftücher mit bunten Tupfen. Die Einsturzstelle ist derart weiträumig abgesperrt, dass vom Absperrgitter aus von den Bergungsarbeiten nicht mehr zu sehen ist als der hydraulische Kran – wie viele der 13 Stockwerke abgetragen sind, ist von hier aus schwer zu erkennen.

Helfen dürften sie ohnehin nicht, sagt eine andere Frau bitter. Ihrem Neffen, der sich als freiwilliger Helfer melden wollte, sei erklärt worden, das sei Sache des Staates. „Es würde ja reichen, wenn ab und zu einer rüberkommt und uns berichtet“, sagt Ayse. „Ist das denn zu viel verlangt?“

Wie anders wäre das mit der Stadtregierung gelaufen, die von der Bevölkerung gewählt wurde, meint eine dritte Frau: „Die waren aus dem Volk und vom Volk gewählt. Wir hätten alle zusammengearbeitet und zusammen geholfen.“ Doch die 2019 gewählten Bürgermeister von Diyarbakir sitzen hinter Gittern, weil sie der Kurdenpartei HDP angehören. Statt ihrer regiert in Diyarbakir - wie in vielen anderen kurdischen Kommunen - ein Zwangsverwalter aus Ankara, den die meisten Bewohner als illegitimen Besatzer ablehnen.
 

In den Kirchen der Stadt fällt der morgendliche Gottesdienst am Sonntag aus. Die Armenier sind nach Antakya gefahren, um bei Beerdigungen zu helfen, die Assyrer nach Adiyaman, um der Gemeinde dort beizustehen. Nur in der protestantischen Kirche wird gebetet - dort haben rund 30 obdachlose Gemeindemitglieder Zuflucht gesucht und sitzen um den Ofen beim gemeinsamen Frühstück. Trotz seiner blutigen Geschichte von Völkermord, Vertreibungen und Kriegen bis in die jüngste Vergangenheit ist Diyarbakir bis heute eine multikulturelle Stadt geblieben, mit vielen Sprachen, Religionen und Kulturen.

Misstrauen gegen die Stadtverwaltung

Seit dem Erdbeben ist das Misstrauen vieler Bürger gegen die Zentralgewalt im Alltag deutlich spürbar. Eine Frau zeigt Fotos von den Spenden für Obdachlose, die sie mit ihren Nachbarn gesammelt hat: Decken, Windeln, Tee und Lebensmittel. „Wir passen aber auf, dass das nicht der Zwangsverwaltung in die Hände fällt“, sagt sie. „Wir verteilen das selbst, denn denen trauen wir nicht.“

Ein junger Kurde in einer der Zeltstädte ist verbittert. „Sie lassen uns nicht helfen, unsere eigenen Leute auszugraben, weil wir angeblich zu ungebildet sind“, sagt er. „Aber wenn sie irgendwo einmarschieren wollen, dann sind wir plötzlich gut genug, um abkommandiert zu werden.“ Als der türkische Justizminister Bekir Bozdag nach Diyarbakir kommt, um sich die Erdbebenschäden anzusehen, wird er ausgebuht. „Diebe, Diebe“, rufen ihm Passanten entgegen.

Kurz darauf besucht Staatspräsident Recep Erdogan selbst Diyarbakir. Während er eine Zeltstadt inspiziert, kämpft er gegen den Eindruck, der Staat lasse die Opfer im Stich. „Vertraut uns, glaubt uns“, beschwört er seine Zuhörer. „Wir lassen niemanden auf der Straße sitzen, wir lassen niemand unter den Trümmern, ob tot oder lebendig.“

Immer die starken Sprüche, aber nichts dahinter.

eine junge Frau über eine Rede des Staatspräsidenten

Auch die staatlichen Behörden in Diyarbakir weisen den Vorwurf zurück, die Menschen in Diyarbakir würden allein gelassen. Sie hätten nicht nur die Zeltstädte errichten lassen, sondern auch Museen, Moscheen, Turnhallen und Gemeindezentren für die Versorgung der Opfer geöffnet. Warme Mahlzeiten würden verteilt, die öffentlichen Busse könnten gratis benutzt werden.

Trotzdem kann Erdogan bei seinem Besuch nicht viele Menschen in Diyarbakir überzeugen, der Applaus für seine Rede bleibt dünn. Wer hier fehle, das seien die Volksvertreter, bemerkt eine junge Frau an einem eingestürzten Haus in einiger Entfernung zu dem Platz, auf dem Erdogan spricht - die Politiker seien sich offenbar zu schade, um direkt mit den Menschen zu sprechen, mit ihnen zu warten und zu leiden. „Immer die starken Sprüche, aber nichts dahinter“, sagt sie. „Denkt mal, gestern drohten sie den Griechen noch, sie würden über Nacht kommen - und jetzt sind es die Griechen, die gekommen sind.“

Die Stadtverwaltung hat nichts getan und tut immer noch nichts.

Sezai Temelli, türkische Parlamentsabgeordnete

Auch der Parlamentsabgeordnete Sezai Temelli widerspricht dem Präsidenten. Erdogans Zentralstaat sei beim Erdbeben gescheitert, sagt der ehemalige Vorsitzende der Kurdenpartei HDP dem Tagesspiegel in Diyarbakir. „Die Stadtverwaltung hat nichts getan und tut immer noch nichts. Die Leute helfen sich gegenseitig und schlagen sich so durch.“

Vor den Trümmerhaufen versuchen Freunde und Verwandte von Vermissten, sich Mut zu machen. Im Gedränge an den Absperrungen vor einem eingestürzten Wohnhaus in der Kurt-Ismail-Pascha-Straße wartet eine Freundesgruppe auf Nachricht von zwei Brüdern, dem 19-jährigen Sidar Bulak und seinem Bruder Kadir, die mit ihrer Mutter in den Ruinen des zehnstöckigen Gebäudes vermisst werden. Ein hydraulischer Kran und ein Bagger sind hier am Werk, dichter Staub liegt in der Luft. Am Samstagmorgen ist hier noch eine Frau lebend herausgeholt worden, deshalb wollen Kübra, Apo und ihre Freunde die Hoffnung nicht aufgeben, obwohl sie schon fast eine Woche vergeblich in der bitteren Kälte warten. 

Ein Krankenwagen ohne Sirenen

Kadir sei unverwüstlich, versucht die 23-jährige Gamze die Gruppe aufzumuntern. „Na warte, den werden wir versohlen, wenn er da rauskommt“, sagt sie scherzend und kann damit sogar Kadirs Onkel ein Lächeln abringen, obwohl ihm die Tränen in den Augen stehen. Er war es, der den Vater der Familie anrufen musste, seinen Bruder. Er war arbeitsbedingt in der Westtürkei, als seine Frau und Söhne beim Beben verschüttet wurden.

Jahrelang habe die Familie um die Ecke im Haus neben ihm gewohnt, bevor sie hierherzog, erzählt der 17-jährige Yusuf. Er ist von Kindheit an mit Sidar befreundet, und Gamze mit Kadir seit der ersten Klasse. Die Freunde wollen nicht weichen, bis die Brüder gefunden sind. Bis dahin glauben sie fest daran, dass sie leben.

Bewegung kommt in die Menge, ein Krankenwagen wird durchgewunken. Gute Nachrichten? Doch es ist ein schwarzer Leichensack, der eingeladen wird. „Nein, keiner von den unsrigen“, stellt ein junger Mann fest, der in der ersten Reihe steht. Eine ältere Frau soll es gewesen sein, habe er von den Helfern erfahren. Er selbst wartet auf Informationen über eine junge Familie aus seiner Verwandtschaft, die Frau ist schwanger. Der Krankenwagen fährt ohne Sirenen davon.

Eltern oder Kinder von Vermissten sollten sich zum Leichenhaus begeben, um DNA-Proben abzugeben, damit die Toten identifiziert werden könnten, ruft ein Mann durch den Zaun in die Menge. Doch niemand weicht vom Zaun zurück, niemand will die Hoffnung aufgeben, dass ihre Freunde oder Verwandten im nächsten Augenblick doch noch lebend hervorgezogen werden. Aufgeben und weggehen von hier, das würde bedeuten, die Hoffnung und den geliebten Menschen aufzugeben. Und deshalb bleiben sie.

Dunkelheit senkt sich, Scheinwerfer flammen auf, die Temperatur fällt weit unter den Gefrierpunkt. Familien scharen sich um Lagerfeuer auf einem leeren Grundstück, um eine weitere lange Nacht durchzustehen. „Was bleibt uns anderes übrig“, sagt eine völlig erschöpfte Frau, die auf ihre Schwester und deren Familie wartet. Ein weiterer Leichensack wird herausgefahren. „Der war im zweiten Stock“, sagt ein Polizist. „Aber das heißt nichts“, fügt er hinzu, als er die entgeisterten Gesichter sieht. „Die Stockwerke sind völlig durcheinander, wir haben noch längst nicht alle.“

Aus dem Haus an der Kurt-Ismail-Pascha-Straße wird in der Nacht zum Sonntag noch ein lebloser Körper gezogen. Es ist der Leichnam der Sängerin Zilan Tigris, die mit ihrem Ehemann – einem Schauspieler – hier wohnte.

Die armenisch-kurdische Künstlerin, die bürgerlich Dilek Kücüker hieß, sang Lieder in allen Sprachen der Stadt – Kurdisch, Armenisch, Arabisch, Aramäisch, Zaza und Türkisch – und verkörperte mit ihrer Biografie und ihrer Musik den Geist dieser uralten Stadt am Tigris. Beim Mittagsgebet wird sie am Sonntag in Diyarbakir beerdigt.

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