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Benjamin Netanjahu muss derzeit großen öffentlichen Druck aushalten.

© dpa/Menahem Kahana

Proteste gegen Israels Regierungschef: Wie lange kann sich Netanjahu noch halten?

Immer wieder kommt es in Israel zu großen Protesten gegen Benjamin Netanjahu. Experten erklären drei Szenarien, wie ein Regierungswechsel vonstattengehen könnte.

Wie wird man ihn los? Diese Frage stellen sich gerade viele Menschen in Israel. Am vergangenen Wochenende gab es erneut Massenproteste gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu – Zehntausende gingen hierfür auf die Straße.

Seit Beginn des Krieges in Gaza wird Netanjahu scharf kritisiert: Seine Gegner machen ihn unter anderem für das Sicherheitsversagen der Armee am 7. Oktober verantwortlich, als die Terrororganisation Hamas Israel brutal attackierte.

Zwar hielt das notorisch zerrissene Land in den Wochen und Monaten nach dem Massaker weitgehend zusammen. Und auch Umfragen zeigen, dass die Israelis zu großen Teilen hinter dem Gazakrieg stehen. Doch die Bevölkerung ist unzufrieden mit Netanjahus Regierung – unter anderem darüber, dass es so wenig Fortschritte bei den Geiselverhandlungen mit der Hamas gibt. Dieser Ärger entlud sich am vergangenen Wochenende bei den Protesten in vielen Städten.

Der Ministerpräsident ist zwar geübt darin, öffentlichem Druck standzuhalten. Doch viele fragen sich inzwischen: Wie lange wird er sich noch halten können? Und welche Mechanismen gäbe es, um ihn abzusetzen?

Ende 2022 trat er sein Amt als Chef der derzeitigen rechts-religiösen Regierung an – und schon im vergangenen Jahr gab es wegen einer hochumstrittenen Justizreform monatelang Massenproteste in Israel. Die Regierung wollte dem Obersten Gericht viele Befugnisse entziehen.

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Nach den Terroranschlägen im Oktober wurden diese innenpolitischen Streitigkeiten ruhen gelassen. Doch nun scheint sich in Israel wieder etwas zu bewegen – und der Premier ernsthaft in Bedrängnis zu geraten. Der Grund sind einerseits die Geiseln, die immer noch in den Händen der Hamas sind. Die Terrororganisation hält noch etwa 100 Israelis im Gazastreifen gefangen. Deren Angehörige machen Netanjahu schwere Vorwürfe. Sie werfen ihm unter anderem vor, nicht genug zu tun, um die Geiseln freizubekommen.

Aber nicht nur das Schicksal der Geiseln ist es, das die Leute derzeit auf die Straße treibt. „Es gibt mehrere Gründe für die aktuellen Proteste“, sagt Yael Shomer, Politikwissenschaftlerin an der Universität Tel Aviv, dem Tagesspiegel. „Der erste Grund ist die Forderung nach einer ,sofortigen Einigung‘ über die Rückgabe aller Geiseln.“

„Ein zweiter Grund ist die Forderung nach vorgezogenen Wahlen angesichts von Netanjahus gescheitertem Plan für eine Lösung des Konflikts in Gaza.“ Israels Regierung versage bei der Bewältigung dieser Herausforderungen, sagt Shomer.

Am Wochenende protestierten Zehntausende Israelis gegen Benjamin Netanjahu.

© imago/UPI Photo/Imago/Debbie Hill

„Sie entfremdet unsere internationalen Verbündeten und lässt die breite internationale Unterstützung schwinden, die Israel nach dem 7. Oktober erhalten hatte.“ Besonders die Vereinigten Staaten haben in den vergangenen Wochen den Druck auf Netanjahu erhöht, den Krieg in Gaza zu beenden und eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Das Verhältnis von Netanjahu zu US-Präsident Joe Biden ist deshalb stark belastet.

Und auch der jüngste Streit um die Wehrpflicht für die Ultraorthodoxen, die sich zu großen Teilen gegen den Einzug in die israelische Armee wehren, ist ein Grund für die Proteste, sagt Gideon Rahat, Politikwissenschaftler an der Hebräischen Universität Jerusalem. „Das Militär wird gerade jetzt mehr eingesetzt als zuvor, und es stellt sich die Frage der Lastenteilung in der Gesellschaft.“

Der Druck auf den Regierungschef wird also größer – und grundsätzlich gibt es drei Wege, um eine israelische Regierung, und damit auch den Ministerpräsidenten, zu ersetzen. Rücktritt, ein Misstrauensvotum – oder Neuwahlen.


Szenario 1: Netanjahu tritt zurück

Zurücktreten wird er nicht, ist Gideon Rahat überzeugt. „Das ist nicht sehr wahrscheinlich, denn Netanjahu hat Angst vor seinem Prozess und dadurch, dass er im Amt ist, wird der Prozess ewig dauern“, sagt Rahat dem Tagesspiegel. Netanjahu muss sich wegen Korruption und Bestechlichkeit vor Gericht verantworten. Höchstens aus gesundheitlichen Gründen könnte der 74-Jährige zurücktreten, sagt Rahat. Gerade musste er sich wegen eines Leistenbruchs unter Vollnarkose operieren lassen.

Auch Yael Shomer glaubt nicht, dass der Regierungschef zurücktreten wird. „Andere prominente Persönlichkeiten wie der Stabschef der israelischen Armee oder des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet haben bereits öffentlich angekündigt, dass sie zurücktreten werden, sobald der Krieg vorbei ist und die Umstände es erlauben“, sagt Shomer. Netanjahu aber habe eine solche Ankündigung nicht gemacht und auch nicht die Verantwortung für die Ereignisse übernommen, die zum 7. Oktober führten.


Szenario 2: Ein Misstrauensvotum

Eine zweite Variante ist ein konstruktives Misstrauensvotum, für das es eine Mehrheit im israelischen Parlament, der Knesset, braucht, die eine alternative Regierung unterstützt. Drittens könnten Neuwahlen angesetzt werden. Dafür braucht es eine Mehrheit von 61 Stimmen in der Knesset. Das bedeutet, dass fünf Mitglieder aus Netanjahus Koalition abweichen müssten. Gideon Rahat hält dies für das wahrscheinlichste Szenario.

„Aber das hängt von einigen Politikern aus seiner eigenen Koalition oder seiner Partei Likud ab und davon, ob sie das Gefühl haben, dass sie mit Netanjahu keine Zukunft haben.“ Israel wählt eigentlich erst 2026 wieder. Einer Umfrage zufolge will aber eine große Mehrheit des Landes diese Wahlen vorziehen.

Sollte Netanjahu tatsächlich aus irgendeinem Grund nicht mehr Ministerpräsident sein, stellt sich natürlich auch die Frage nach einer Alternative. Aus seinem Kabinett heraus sieht Gideon Rahat vor allem zwei Nachfolger mit Ambitionen. „Yoav Gallant sieht sich als Nachfolger, zumal der Verteidigungsminister in diesen Kriegszeiten sehr beliebt ist. Auch der Außenminister Israel Katz wartet schon ewig darauf, Premierminister zu werden“, sagt Rahat.


Szenario 3: Neuwahlen

Im Falle von Neuwahlen zeigen die Umfragen vor allem in eine Richtung: Auf Netanjahus ärgsten Rivalen und Minister im Kriegskabinett, Benny Gantz. Am Mittwoch sprach sich Gantz in einer Pressekonferenz für Neuwahlen aus. Diese würden Israel international Unterstützung verschaffen und die Spaltung innerhalb der Gesellschaft verringern, sagte Gantz am Mittwoch bei einer Pressekonferenz. Ganz uneigennützig kam diese Aussage wohl nicht. Viele Israelis trauen ihm am ehesten den Job als Regierungschef zu, zuletzt wurde er, zum großen Ärger von Netanjahu, zu einem Besuch in die USA eingeladen. Hier traf er unter anderem Vizepräsidentin Kamala Harris. 

Auch Yael Shomer kann sich vorstellen, dass Benny Gantz gute Chancen hat, mahnt aber zu Vorsicht. „Das politische System Israels könnte sich vor den nächsten Wahlen komplett ändern, neue Politiker könnten die Arena betreten und auch die öffentliche Meinung und die Wahlabsichten Israels sind angesichts des Massakers vom 7. Oktober wahrscheinlich sehr unbeständig“, sagt Shomer.

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