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Warum haben Zehntausende türkischstämmige Menschen in Deutschland Recep Tayyip Erdoğan gewählt?

© IMAGO/HEN-FOTO

Türken in Deutschland haben die Wahl: In meinem Kopf schreit eine Stimme, dass das ungerecht ist

Zehntausende Menschen in Deutschland dürfen den neuen Präsidenten der Türkei wählen. Was treibt sie nur, für Erdoğan zu stimmen? Ein persönlicher Zwischenruf.

Ein Kommentar von Miray Caliskan

Seit dem 14. Mai schreit eine Stimme in meinem Kopf. Grässlich laut ist sie. Sie verstummt nicht, zu keiner Tageszeit. Die Stimme presst ein einziges Wort heraus: warum? Warum haben Zehntausende türkischstämmige Menschen in Deutschland Recep Tayyip Erdoğan gewählt?

Es gibt keine leichte Antwort darauf. Die kann es gar nicht geben. Zu viel kommt zusammen. Die individuellen Gründe und Lebensrealitäten dieser Menschen, in die kaum jemand Einblick hat. Wählen Sie Erdoğan, weil sie schon immer Erdoğan gewählt haben? Wählen sie ihn, weil sie sich von ihm angesprochen und verstanden fühlen?

Das muss man Erdoğan nämlich lassen: Immer wieder richtet er seine Reden an die hier lebenden Türken, seine Brüder und Schwestern, auf die er zählen kann – wie auch die jüngsten Wahlergebnisse gezeigt haben. Weit über die Hälfte der rund 732.000 Wähler:innen in Deutschland haben für ihn gestimmt.

Wahlzettel für die türkische Präsidentschaftswahl liegen in einem Wahllokal in der Messe Hannover.

© picture alliance/dpa/Julian Stratenschulte

Das Gefühl, nicht dazuzugehören

Vielleicht haben sie nie wirklich das Gefühl vermittelt bekommen, ein Teil von Deutschland zu sein, wirklich dazuzugehören, obwohl sie in ihren Augen alles in ihrer Macht Stehende dafür getan haben? Vielleicht aber sehen sie in Erdoğan einfach den Verfechter der Werte, die für sie wichtig sind, für ihre Kultur, Tradition, Religion?

Ich habe nur einen deutschen Pass. Doch selbst wenn ich die türkische oder doppelte Staatsbürgerschaft hätte: Ich würde nicht wählen. Ich finde den Gedanken unfassbar ungerecht, dass die „Deutsch-Türken“ aus über 2000 Kilometer Entfernung über die Schicksale jener bestimmten können, die wirklich betroffen sind.

In Deutschland gibt es 1,5 Millionen Wahlberechtigte, die dazu aufgerufen werden, sich an den Urnen zwischen dem amtierenden Präsidenten Erdoğan und seinem Herausforderer Kılıçdaroğlu von der CHP zu entscheiden.

© dpa/Andreas Rosar

Über jene, die sich nichts mehr leisten können, keine Milch, kein Fleisch, ja nicht einmal Kartoffeln und Zwiebeln. Die sich fünf Mal überlegen müssen, ob sie sich den Sesamring Simit, für 13 Lira oder mehr, kaufen sollen, ein Gebäck, das früher gerade einmal ein Lira gekostet hatte.

Viele Menschen in der Türkei können sich den Gang ins Kaffeehaus um die Ecke nicht mehr leisten. Viele erinnern sich kaum daran, wann sie zuletzt auf einem Konzert oder einer Kulturveranstaltung waren. Menschen, die ihre Miete nicht zahlen können oder die Schuluniform ihrer Kinder.

Ausgehöhlte Demokratie

Und dann jene, die unterdrückt werden. Sobald sie öffentlich eine Meinung äußern, die nicht in das Bild von Erdoğans Ideologie passt, werden sie unter irgendwelchen Vorwänden verurteilt und ins Gefängnis gesteckt. Oder ohne Prozess zum Terroristen erklärt. Betroffen sind Privatpersonen, Künstler:innen, Jurist:innen, Journalist:innen – die Liste könnte endlos weitergeführt werden.

Erdoğans Regierung hat es geschafft, über die vielen Jahre so ziemlich alle Stimmen, die sich gegen seine Politik erhoben haben, verstummen zu lassen. Nur Kemal Kılıçdaroğlu und wenige andere Oppositionelle sind noch laut, obwohl sie von allen Seiten verbal angegriffen werden. Sie führen einen unermüdlichen Kampf für Demokratie und Laizismus.

Über 20 Jahre ist Erdoğan an der Macht und kann nicht genug kriegen. Er wird einfach nicht satt, schlendert in gebeugter Haltung und so schrecklich unbeugsam durch seinen Palast. Die Demokratie im Land hat er fast komplett ausgehöhlt – und erhält dafür die Zustimmung von Menschen, die demokratische Rechte in vollen Zügen in Deutschland genießen können. Stimmen, die so überaus wichtig sind, weil sie wahlentscheidend sein könnten.

Ist es Ignoranz? Lassen sich die hier lebenden Menschen tagein, tagaus von türkischen Staatsmedien einlullen? Stellen keine Fragen und hinterfragen auch nicht. Oder gibt es einen viel einfacheren, pragmatischeren Grund? Nämlich all jene, die ein bis zwei Mal im Jahr, für ein bis sechs Wochen in einem der vielen türkischen Städte am Meer Urlaub machen und es sich mit ihren Euros richtig gut gehen lassen – und unironisch fragen: Worüber meckert das Volk denn ständig?

Diese gefühlte Realität (das erlebe ich, also müssen es auch andere so erleben) kann man gerade in den sozialen Medien zuhauf lesen. Und es wäre zumindest der Versuch zu erklären, wieso gerade jüngere Menschen – wenn sie es nicht schon von ihren Familien so eingetrichtert bekommen haben – Erdoğan wählen.

Es bleibt spannend. Ab kommendem Sonntag wird die Stimme in meinem Kopf entweder noch eine sehr lange Zeit weiter schreien und versuchen nach Antworten zu suchen. Oder sie wird hoffnungslos für immer verstummen – dann wäre es Erdoğan gelungen, selbst mich, einer Beobachterin aus der Ferne, zum Schweigen zu bringen.

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