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Am 25. April hielt der französische Präsident Emmanuel Macron seine zweite große Rede zu Europa an der Pariser Universität La Sorbonne.

© REUTERS/CHRISTOPHE PETIT TESSON

Zweiter Akt für Macrons Europapolitik: Der verzweifelte Appell eines Visionärs

Der französische Präsident warnt vor dem Tod Europas und zeigt, wie sich die EU bei der Verteidigung schrittweise dem Ziel der Souveränität annähern könnte. Nun braucht es eine Antwort aus Berlin.

Ein Kommentar von Anja Wehler-Schöck

Es ist kein Déjà-vu. Als der französische Präsident an diesem Donnerstag nach sieben Jahren zum zweiten Mal an der Pariser Universität La Sorbonne eine große Rede über Europa hält, spricht er nicht zu den Europäern, sondern vor allem zu den Franzosen. Die Rede, die Macron diese Woche ursprünglich vor dem Europäischen Parlament in Straßburg halten wollte, wird zum Wahlkampfauftritt.

Denn wer in Frankreich die große Gewinnerin sein wird, wenn in sechs Wochen Europawahl ist, daran zweifelt kaum jemand. Die rechtspopulistische Partei Rassemblement National von Marine Le Pen liegt in den Umfragen derzeit bei 32 Prozent. Und schneidet damit doppelt so stark ab wie das zweitplatzierte Parteienbündnis rund um Macrons Partei Renaissance.

Auch wenn die nächsten Präsidentschaftswahlen in Frankreich erst in drei Jahren sind: Wie am 9. Juni bei der Europawahl abgestimmt wird, wird ein wichtiger Test für Marine Le Pen sein.

Marine Le Pen, die Fraktionsvorsitzende und Lenkerin der rechtspopulistischen Partei Rassemblement National. 
Marine Le Pen, die Fraktionsvorsitzende und Lenkerin der rechtspopulistischen Partei Rassemblement National. 

© dpa/Abaca/Pierrick Villette

Und so will Macron mit seiner Rede das französische Volk darauf einzuschwören, wofür Europa steht. Zeigt sich als unerschütterlicher Europäer. Die europäische Idee habe sich durchgesetzt, gibt er sich überzeugt. Selbst die Nationalisten würden heute nicht mehr den Austritt aus der EU und dem Euro fordern. Aber sie würden sich an den europäischen Erfolgen bereichern wollen, ohne sich an die Regeln zu halten und ihren eigenen Beitrag zu leisten.

Macron zeigt eine düstere Perspektive auf. Europa werde von Mächten innerhalb und außerhalb seiner Grenzen bedroht. „Unser Europa kann sterben“, warnt er. Ob das geschehen werde, hänge alleine von unseren jetzigen Entscheidungen ab.

Die Botschaft an die französischen Wähler ist klar. Wer für das Rassemblement National stimmt, dessen Fraktionsvorsitzende Le Pen – trotz ihrer rhetorischen Zurückhaltung zuletzt – bis heute von einer ideologischen Nähe zu Russland geprägt ist, setzt damit die Zukunft Europas aufs Spiel.

Der große Wurf gelingt Macron mit seiner Rede nicht. Fast zwei Stunden lang rattert er atemlos einen Katalog herunter. Listet auf, was man in den vergangenen Jahren geschafft habe, was noch alles zu tun sei, was Europa zu bieten habe. Statt eine konzise, konkrete Vision für Europa zu formulieren, verliert sich der französische Präsident in Details. Am Ende muss man die interessanten Ideen, von denen seine Rede einige enthält, mühsam unter erschöpfenden Ausschweifungen suchen.

Zu seiner Form als visionärer Redner läuft er nur auf, als er zwischendrin über die europäische Verteidigungsunion spricht. Hier formuliert der Präsident konkrete Vorhaben. Man merkt – wie bereits 2017 –, dass ihm dieses Thema ein Herzensanliegen ist. So viel ist für ihn klar: Frankreich soll führen, wenn es um Sicherheit und Verteidigung in Europa geht.

Der Krieg in der Ukraine hat gnadenlos offenbart, dass Europa auf dem Gebiet der Verteidigung weit von einem Zustand entfernt ist, der als „souverän“ bezeichnet werden könnte. Die Vision hat sich als hehrer Wunsch entpuppt, wenn nicht gar als Luftschloss. Europa ist nicht in der Lage, sich aus eigener Kraft zu schützen, sondern bleibt weiterhin auf die Amerikaner angewiesen.

Macron hält an diesem Ziel jedoch eisern fest, lädt die europäischen Partner ein, ein Konzept für eine „glaubwürdige europäische Verteidigung“ zu erarbeiten. Und benennt mehrere Ideen, die Europa der Souveränität tatsächlich schrittweise näherbringen könnten.

Er fordert eine engere Zusammenarbeit der nationalen Armeen in Europa und schlägt den Aufbau einer europäischen Militärakademie zur Ausbildung des Führungsnachwuchses vor. Der entscheidende Punkt ist jedoch: Die Verteidigungsindustrie Europa muss ausgebaut werden und eine – weitgehend – innereuropäische Beschaffung ermöglicht werden. Denn ohne diese, so sagt Macron zurecht, wird die Souveränität unerreichbar bleiben.

Bei einigen Punkten – wenn es etwa um den umfassenden Ausbau der Atomkraft geht – wird deutlich: Hier wird sich Paris schwerlich mit Berlin einigen. Und dennoch: Der französische Präsident lässt keinen Zweifel daran, welche Bedeutung er der Partnerschaft mit Deutschland beimisst. Bundeskanzler Scholz ist der einzige Regierungschef, den Macron mehrfach namentlich nennt. Auch die Erfolge deutsch-französischer Zusammenarbeit erwähnt er wiederholt.

Hier braucht es unverzüglich eine Erwiderung aus Berlin. Die Ideen, die der französische Präsident vor allem zur Verteidigungspolitik formuliert hat, müssen aufgegriffen und gemeinsam weiterentwickelt werden. Denn auch wenn das Klischee vom deutsch-französischen Motor viel bemüht und abgedroschen ist: Europa braucht ihn. Und zwar jetzt.

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