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In „Retourner à Sölöz“ („Back to Sölöz“, 2020) dokumentiert Serge Avédikian das Leben aremenischer Exilanten in der Türkei.

© promo

Armenisches Kino: Kein Ankommen in der Gegenwart

Armenien ist zerrissen zwischen den Folgen des Völkermords und der Unterdrückung in der Sowjetunion. Die Filmreihe „Wir sind unsere Erinnerung“ geht den nationalen Traumata auf die Spur.

Als seine jungen Fahrgäste nicht zurückkehren, verschlägt es einen Taxifahrer im Jerewan der frühen 1960er Jahre unverhofft in eine Ausstellung. Während er nach ihnen sucht, fällt sein Blick auf ein Gemälde mit einem Jungen, der mit verschränkten Armen aus dem Bild heraus blickt. Der Infotext erklärt lediglich, dass das Bild 1920 in einem Waisenhaus in Aleppo entstanden sei; doch der Taxifahrer glaubt, in dem Jungen seinen Bruder Aram wiederzuerkennen.

Die Familie hat Aram während des türkischen Völkermords an der armenischen Bevölkerung in den Jahren 1915/16 verloren – und bis zu diesem Moment galt er als auf der Flucht verstorben. Der armenische Regisseur Nerses Hovhannisyan realisierte 1962 mit seinem kurzen Spielfilm „Treffen in der Ausstellung“ eine der frühesten filmischen Auseinandersetzungen mit dem Genozid an den Armeniern, der Aghet.

Hovhannisyans Film ist nun Teil des von Gary Vanisian kuratierten Programms „Wir sind unsere Erinnerung. Der Genozid als Vergangenheit und Gegenwart im transnationalen armenischen Kino“ im Sinema Transtopia.

„Treffen in der Ausstellung“ ist neben der Thematisierung der Aghet noch in anderer Hinsicht bemerkenswert. Zu Beginn lauscht der Taxifahrer leicht befangen einem Museumsführer: „Die Waisenkinder Westarmeniens blicken in die Welt mit ihren großen, traurigen Augen […] und es scheint, als würden sie sich über ungerechte Kriege, Kolonisation und Gewalt beklagen.“

Der Satz über Krieg, Kolonisation, Gewalt lässt sich zeitgenössisch ebenso als Teil des offiziellen, vermeintlichen Antiimperialismus der Sowjetunion verstehen wie auch als Kritik am sowjetischen Imperialismus gegenüber der Armenischen SSR.

Ohrfeige für die Sowjetunion

Nur sieben Jahre zuvor war die Sowjetunion auf der ersten asiatisch-afrikanischen Konferenz im indonesischen Bandung mit den westlichen Kolonialmächten für ihren Imperialismus kritisiert worden. Eine Ohrfeige, auf die die Sowjetunion mit der Erfindung der Legende vom eigenen Antiimperialismus reagierte, die Russland heute wieder reaktiviert. Die Filme der Reihe, die vor 1991 entstanden, lassen sich als Teil der Bemühungen verstehen, die Wahrnehmung der sowjetischen Kinematografien zu dekolonialisieren.

Szene aus Nora Martirosyans „Should the Wind Drop“: Der Flughafen in Stepanakert steht heute unter aserbaidschanischer Besetzung.

© promo

Wie komplex diese Entwirrung in der Praxis ist, zeigt einer der zentralen Beiträge der Reihe. Henrik Malyans „Wir und unsere Berge“ von 1968 ist laut Vanisian „einer der populärsten Filme der armenischen Filmgeschichte“, aber zugleich finden sich in den Dialogen und Bildern natürlich Sowjetismen.

Der Film zeigt eine Gruppe von Hirten in den Bergen, ihre synchrone Arbeit erinnert an sowjetische Filme aus den 1930er Jahren, die die Modernisierung der Landwirtschaft beschwören. Gleichzeitig ist die Darstellung der Landarbeit und der Bezug auf die Berge ein klassisches Motiv der nationalen Filmsprache.

Armeniens Filmgeschichte ist transnational

Beim Schlachten eines Schafs zitiert einer der Hirten eine Passage aus Shakespeares Othello, die in Aleppo spielt, damals einer der Fluchtorte der armenischen Bevölkerung. Acht Jahre später dreht Malyan „Nahapet“: Ein Mann erlebt die Auslöschung seiner Familie und seines Heimatortes im Osmanischen Reich und flieht gebrochen durch verwüstete Landschaften.

Wie aktuell der Blick auf die transnationale Filmgeschichte Armeniens ist, zeigt jener Film, der am 7. Dezember zusammen mit „Treffen in der Ausstellung“ läuft. Garegin Papoyan dokumentierte 2020 in „Bon Voyage“ die Arbeit auf einem Flughafen ohne Flugbetrieb.

Das eindrucksvolle Gebäude in Stepanakert, das an ein Flugzeug erinnert, wurde in den 1970er Jahren errichtet. 1991 wurde der Flughafen im Zuge des Kriegs um Bergkarabach – oder Arzach, wie viele Armenier:innen die Region nennen – geschlossen und seither nie wieder angeflogen.

Die Angestellten spielen Schach mit sich selbst, sehen Filme auf ihren Computer und organisieren den Erhalt eines Flughafens, der darauf wartet, seinen Zweck wieder erfüllen zu dürfen. Im September flohen die meisten der Bewohner:innen auch aus Stepanakert. Der Flughafen steht heute unter aserbaidschanischer Besetzung.

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