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Wilbert Olinde (ganz rechts) und seine Göttinger Mannschaftskameraden

© Archiv Christoph Ribbat

Zeitgeschichte: Der große Wurf

Christoph Ribbat erzählt die Story des afroamerikanischen Basketballers Wilbert Olinde jr. - als Panorama der deutsch-amerikanischen Geschichte

Im August 1977 läuft ein Mann durch die niedersächsische Universitätsstadt Göttingen und wundert sich , das es hier eine Straße gibt, die für Fußgänger reserviert ist. Dass dort, wo Autos fahren dürfen, wiederum Ampeln anzeigen, bei welcher Durchschnittsgeschwindigkeit man die grüne Welle erwischt. Die Menschen, die ihm entgegenkommen wundern sich ebenfalls: Was macht dieser 22 Jahre alte, 2,02 Meter große Afroamerikaner in der norddeutschen Provinz?

Er ist Gastarbeiter beim SSC Göttingen. Einen Ausländer pro Mannschaft erlaubt das Reglement der Basketball-Bundesliga. Und der ist nun Wilbert Olinde jr. aus Los Angeles. „Deutschland für eine Saison“ hat er geplant, so lautet auch der Titel von Christoph Ribbats Buch. Doch es wird ein ganzes Leben daraus. Weil ihn die fremde Welt fasziniert.

Die Sportlerkarriere ermöglicht den sozialen Aufstieg

Die Eltern von Wilbert sind vor der Südstaaten-Segregation aus Louisiana nach Kalifornien geflohen, so wie es Millionen anderer Afroamerikaner getan haben. Der Vater bringt die Familie mit schlecht bezahlten Jobs durch, die Mutter arbeitet als Krankenschwester. Aber sie will mehr, sie beginnt zu studieren, wird Lehrerin, später Rektorin. Natürlich erträumt sie sich eine akademische Laufbahn für ihren Sohn. Und der bekommt tatsächlich eines der begehrten Vollstipendien – weil er als Basketballer außergewöhnlich begabt ist.

Es ist seine Chance. So wie im Europa des 19. Jahrhunderts Klerus und Militär jungen, ehrgeizigen Männern aus einfachen Verhältnissen den sozialen Aufstieg ermöglichen, kann eine Sportlerkarriere in den USA selbst einen Schwarzen aus der lower middle class ganz nach oben führen. Doch für die amerikanische Profiliga reicht es dann doch nicht. Weil Wilbert zu sehr Teamplayer ist, stets an die Mannschaft denkt statt den Ego-Trip eines Korbjägers durchzuziehen.

Deutsche Akademiker vergleichen Basketball mit Jazz

Als Rebound-Spezialist wirst du kein Star, höchstens in Europa, sagen seine Berater. Also nimmt Olinde das Angebot aus Göttingen an. Noch ist Basketball in Deutschland eine Liebhaberei, die Professionalisierung des Sports beginnt erst in den Achtzigern. Hochburgen sind die Unistädte, weil Akademiker Basketball als ästhetisch, spontan und kollegial schätzen, vergleichbar mit dem Improvisieren im Jazz.

Die Göttinger Godehardhalle ist ein Witz im Vergleich zu den Arenen, in denen Wilbert Olinde mit seinem College-Team gespielt hat. Seine deutschen Mannschaftskollegen rauchen wie die Schlote, trinken viel Bier und hocken am liebsten in ihrer Stammkneipe, „Zum Altdeutschen“. Wilbert Olinde hat Zeit genug, neben dem Sport Deutsch zu lernen und ein Studium der Betriebswirtschaft zu absolvieren.

Die Art, wie Christoph Ribbat diese transatlantische Story erzählt, ist so außergewöhnlich wie das Schicksal ihres Protagonisten: Weil der Autor, der im Hauptberuf Anglistikprofessor ist, virtuos Biografie und zeitgeschichtliches Panorama miteinander verschränkt. Die Entwicklung der Bundesrepublik der Nachkriegszeit wie auch der USA verdichtet sich zur „Mikrogeschichte“ in dieser einen, scheinbar willkürlich herausgegriffenen Persönlichkeit. Ribbat beschreibt die Bundesrepublik der RAF-Jahre und der Vollbeschäftigung mit den Augen eines „Gastarbeiters“. Olinde sieht manches schärfer als seine deutschen Zeitgenossen. Wer selber in dieser Zeit groß geworden ist, entdeckt Querverbindungen, begreift die Wechselwirkung gesellschaftlicher Prozesse, wie Helmut Kohls Heimat-Kampagne, deren Folgen bis in die Gegenwart wirken.

Die Grenze zwischen Fakten und Einfühlung verwischt

Hinzu kommen erhellende Exkurse zum Schicksal der Afroamerikaner vom Sklavenhandel bis zu Martin Luther King und der Bürgerrechtsbewegung. Der Erzählfluss ist dabei konsequent im Präsenz gehalten. Christoph Ribbat schildert die Beobachtungen und Gefühle seines Protagonisten derart eindringlich, so detailliert, dass die Grenze zwischen Faktenrecherche und literarischer Einfühlung verwischt. Aber gerade das hält die Aufmerksam konstant hoch: Man will wissen, wie es Wilbert Olinde ergangen ist, fiebert mit bei der Siegesserie seines Göttinger Vereins, freut sich für ihn, als er schließlich - nach seiner Einbürgerung – sogar deutscherNationalspieler wird, leidet mit bei seinen privaten und beruflichen Rückschlägen (in den Achtziger besiegt er den Blasenkrebs), staunt über diesen typisch amerikanischen Optimismus.

Nach dem Ende seiner Sportlerlaufbahn wechselt Wilbert Olinde zu einem Versicherungskonzern, arbeitet später für eine Kreditkartenfirma, macht sich schließlich selbständig als er im Rahmen eines radikalen Personalabbaus gefeuert wird. Mittlerweile lebt er in Hamburg und tourt als Motivations-Coach durchs Land. Bei seinen Seminaren erzählt er gerne, was er zur Feier jenes Tages gemacht hat, an dem er länger Deutscher war als Amerikaner: „Ich habe einen Liegestuhl auf den Balkon gestellt und ein Badehandtuch draufgelegt.“ Nach der Lektüre von „Deutschland für eine Saison“ möchte man ihn am liebsten sofort persönlich kennenlernen.

Christoph Ribbat: Deutschland für eine Saison. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 270 Seiten, 24 €.

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