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© Ullstein-Bild

Anton Tschechow: Ein Freund, vielleicht

Unsere russische Seele: Zum 150. Geburtstag des Dramatikers und Erzählers Anton Tschechow

Stellen wir uns Tschechow als einen Freund vor, einen guten Freund. Manchmal sieht man ihn länger nicht, manchmal scheint er seltsam und verschlossen, und es kann passieren, wie in jeder Freundschaft, die dieses große Wort verdient, dass man einander auf die Nerven geht und Verletzungen beibringt. Aber es gibt immer einen Weg zurück, die Tür ist nie zugeschlagen. Tschechow ist ein Freund fürs Leben, an dem man wächst.

In seine Erzählungen und Theaterstücke tritt man ein wie in eine vertraute Welt, man glaubt sich da auszukennen und auf Verwandte und Bekannte zu treffen, was natürlich auch daran liegt, dass die besten Regisseure und Schauspieler des deutschsprachigen Theaters uns in den letzten Jahrzehnten mit ihren wunderbaren Tschechow-Aufführungen verwöhnt haben. Klaus Michael Grübers „An der großen Straße“, Peter Steins „Drei Schwestern“, Peter Zadeks „Iwanow“ und Jürgen Goschs Vermächtnis mit „Onkel Wanja“ und der „Möwe“: Sie haben Theatergeschichte geschrieben, an die sich die eigene Biografie anlehnt. Ebenso wenig wie man sich ein Leben ohne Theater und Literatur vorstellen kann, lässt sich das Theater ohne Tschechow denken. Es hätte weder Sinn noch Herz und Verstand. Einem Übersetzer wie Peter Urban ist es zu verdanken, dass Tschechows Werk uns so klar und direkt anspricht. Aber ist das wirklich so? Bilden wir uns diese Freundschaft nicht bloß ein? Wie kann man freundschaftliche, familiäre Gefühle für einen toten Dichter empfinden?

Anders als Gorki oder Tolstoi hätte Tschechow sich nie angemaßt, die Menschen erziehen zu wollen. „Die, die zweihundert Jahre nach uns leben werden und die uns dafür verachten werden, dass wir unser Leben so dumm und so geschmacklos zugebracht haben, sie werden vielleicht das Mittel finden, wie man glücklich wird“, sagt der Doktor Astrow in „Onkel Wanja“. Ja, dieses Vielleicht. So spricht kein Prophet, kein Weltverbesserer. Vielleicht etwas finden, wie man glücklich wird – das bleibt wohl Utopie, verlorene Liebesmüh’. Und es ist auch nur einer, der das sagt, andere sagen andere Dinge, träumen anders in den Stücken des Russen, der am 29. Januar 1860 in Taganrog geboren wurde, „am Ufer des seichten Asowschen Meeres, in einer damals öden Kleinstadt“, wie Iwan Bunin schrieb, ein Freund Tschechows, der nach der Oktoberrevolution nach Westeuropa emigrierte und 1933 – als erster Russe – vom Literaturnobelpreis überrascht wurde.

Tschechow starb am 15. Juli 1904 im deutschen Kurort Badenweiler an Tuberkulose. Revolutionen, Weltkrieg, den Aufstieg der Sowjetunion, den roten Terror, den technischen Siegeszug der Moderne, den Triumph der Filmkunst und der Kinoindustrie, die Abstraktion in der Malerei, Relativitätstheorie und atonale Musik, Surrealismus, Rundfunk, Massenpropaganda – all das hat er nicht erlebt. Dennoch empfinden wir ihn als Zeitgenossen. Ist es, weil Tschechow, wie es so schön und einfach heißt, in einer Zeit des Umbruchs lebte und wir das ebenso erfahren?

Vielleicht. Ein wichtiges Wort, wenn man versucht, etwas über Tschechow und diese seltsame Freundschaft herauszufinden. Allgemein gilt die Ansicht, Tschechow, von Hause aus Arzt, sei unter allen Dramatikern und Schriftstellern derjenige, der Menschen am genauesten beobachtet und am exaktesten beschreibt, ein Sezierkünstler und Genie mit Röntgenaugen. Aber es verhält sich vielleicht genau umgekehrt: Tschechow nimmt die Menschen nicht auseinander, er sieht ihnen ihr vages, verschwindendes Wesen, ihr Geheimnis nach. Und deshalb ist er uns so nah. Vielleicht fühlen wir uns von ihm verstanden, ganz sicher lässt er jedem seine Freiheit und Natur, eben sein Geheimstes. Der amerikanische Schriftsteller Richard Ford betrachtet Tschechows Erzählungen als seine Bibel. Doch in seinen Stories und Romanen zieht Ford die von ihm geschaffenen Figuren bis auf die Knochen aus, zerlegt Beziehungen und Affären wie ein Psychologe, Soziologe, Ethnologe zugleich.

Bei Tschechow lieben wir das Gegenteil von Besserwissen, Belehrung und Seelenpantscherei: die Un-Genauigkeit also, eine gewisse Unschärfe, die dem Menschen seine Aura bewahrt. In diese Richtung forscht Janet Malcolm in ihrem Buch „Tschechow lesen“, das jetzt im BerlinVerlag erschienen ist. Sie kommt immer wieder auf Tschechows Geschichte von der „Dame mit dem Hündchen“ zurück, in der zwei unglücklich Verheiratete heimlich zueinanderfinden. „Jede Familie hat ihre Freuden und Leiden, aber wie groß diese auch sein mögen, ein fremdes Auge wird sie schwerlich bemerken: Sie sind ein Geheimnis.“ Tschechow selbst war von ungeheurer Diskretion, was seine Biografie und sein Werk angeht. Anna (die Dame mit dem Hündchen) und ihr Liebhaber Gurow schenken sich ein Intimleben, das vor der Außenwelt beschützt wird und in das auch ihr Erfinder nicht eindringt. Vielleicht ist das Tschechows größtes Geheimnis – er behandelt seine Figuren so, wie man als Mensch behandelt werden möchte. Das schließt Klarheit, Härte und Spott nicht aus, doch zu einem endgültigen und damit vernichtenden Urteil kommt es nicht. Janet Malcolm spekuliert über Tschechows Religiosität, aber auch in dieser Frage war er wie ein versiegelter Brief, dessen Inhalt man vielleicht erahnt, wenn man ihn ans Licht hält. Weder Atheist noch gläubiger Christ, ein herzengebildetes abendländisches Ich, kurz: ein zivilisierter Mensch. Und das schließt Wutausbrüche und Jähzorn ein, wozu er fähig war, wenn er mit Dummheit und schlampiger Sprache konfrontiert wurde.

Bei einem Schriftsteller, der für seine Menschendarstellung berühmt ist, mag es widersinnig klingen. Doch über allem steht bei Tschechow offensichtlich die Maxime „Du sollst dir kein Bildnis machen“. Keines jedenfalls, das Menschen einsortiert und abstempelt; das hat er den revolutionären Künstlern überlassen, die bald nach ihm kommen sollten. Tschechow erlaubt seinen Geschöpfen ein Eigenleben oder sogar zwei , was nicht unbedingt heißt, dass sie Schwindler und Lügner sein müssen. Der verheiratete Gurow, der die Anna mit dem Hündchen liebt, „hatte zwei Leben: eines, das offen zutage lag, das jeder sah und kannte, den es etwas anging, ein Leben voller bedingter Wahrheit und Betrug, in allem dem Leben seiner Freunde und Bekannten ähnlich, und das andere – das heimlich verlief.“ Und in diesem anderen Leben liegt Gurows Kern. „Und vielleicht“, heißt es dann weiter, wieder dieses Vielleicht, „ist der kultivierte Mensch deshalb teilweise so nervös darum besorgt, dass sein persönliches Geheimnis gewahrt bleibt.“

Es ist eben das, was man selbst bei einem guten Freund oft vergeblich sucht – solche Diskretion, solches Verständnis. Tschechow gibt uns diesen Schutz. Dafür verlangt er nichts weiter als einen wachen Zuschauer, der die Komödie in der Tragödie erkennt, und umgekehrt. Und um die Wahrheit zu sagen, unter Freunden, ist dies vielleicht im Grunde ein dem im letzten Sommer gestorbenen Regisseur Jürgen Gosch gewidmeter Text. An einigen Stellen ließen sich leicht die Namen vertauschen: Gosch statt Tschechow. Man wird noch eine Weile an Gosch denken, wenn man Tschechow sagt, und umgekehrt. Weil es mitten ins Herz getroffen hat. Und weil man auch bei Jürgen Gosch und seinen Schauspielern das Gefühl hatte, dass uns da Freunde erwarten.

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