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Die Potsdamer Schriftstellerin Julia Schoch.

© Andreas Klaer

Julia Schochs Roman "Das Vorkommnis": Erinnerungsüberfall

Die Unmöglichkeit der Vergangenheit: Julia Schochs Roman „Das Vorkommnis“.

Als Julia Schoch vor ein paar Jahren beschreiben sollte, was sie an der von ihr geschätzten Annie Ernaux so mag, verglich sie die Arbeit der französischen Kollegin mit der einer Uhrmacherin. Die Bücher von Ernaux, sagte Julia Schoch damals in ihrer von der Frühsommersonne erhitzten Schreibhöhle unterm Dach in Potsdams Zentrum, läsen sich doch so, als würde hier jemand eine feine Mechanik nach und nach in alle Einzelteile zerlegen.

Eine Uhr zum Beispiel. Als würde sie sich jedes Detail genau ansehen, es drehen und wenden, und das Ganze am Ende wieder zusammensetzen. Es entstünde die gleiche Uhr – und doch wäre der Klang ein gänzlich neuer.

Der neue Roman von Julia Schoch, der Auftakt einer Trilogie mit dem Titel „Biografie einer Frau“, verfährt ähnlich. Die Feinmechanik, die es hier untersucht wird, ist die Erinnerung – oder vielmehr ein konkretes Stück davon. Gleich zu Beginn kommt dieses Objekt auf den Tisch: jenes titelgebende „Vorkommnis“. (dtv, München 2022. 192 Seiten, 20 €.)

Das gewohnte Bild ist schief, stimmt nicht mehr

Die Ich-Erzählerin, eine Autorin, wird nach einer Lesung von einer Frau angesprochen. Die Fremde eröffnet ihr, dass sie den gleichen Vater hätten, also Schwestern seien. Nach kurzem Austausch verabschiedet sich die Frau. Die Autorin geht mit den Veranstaltern essen. Ende?

Natürlich nicht. Wo das Vorkommnis zu Ende ist, fängt dieser Roman an. Die Autorin geht wieder nach Hause zu ihrer Familie, beginnt bald ein Stipendium in den USA, lebt weiter ihr Autorinnenleben. Und doch ist nichts mehr, wie es war. Weder das Verhältnis zur leiblichen Schwester, über die die Erzählerin (wie auch Schoch selbst) ein Buch geschrieben hat.

Noch zum Vater, der jahrelang versteckt Alimente für ein Kind außerhalb seiner eigenen Familie gezahlt, noch zur Mutter, die das irgendwann herausgefunden und abgehakt hat. Und auch nicht zum eigenen Mann, den sie zunehmend wie einen Fremden betrachten wird. „Etwas an dem gewohnten Bild stimmte nicht mehr“, heißt es an einer Stelle.

Bisher war die Familie ein verlässliches Etwas gewesen – Schochs Erzählerin findet dafür die geometrische Form des Quadrats. Wo vorher saubere, verständliche Form war, wuchert seit dem Eintritt der Fremden „ein struppiges Gewächs“. Bekanntes ist fremd geworden, Vertrauen dahin. Es kommt zur grundsätzlichen Krise. „Ich gewöhnte mir an, Wörter wie ,Glück' oder ,Liebe' nur noch ironisch zu verwenden.“

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„Das Vorkommnis“ ist der Versuch, diesem struppigen Gewächs wieder eine Form zu geben – die der Literatur. Schoch schreibt sich die Familie jedoch nicht wieder heil, im Gegenteil. Am Ende steht keine Familiensaga, kein Wer-wen-wann-warum-betrog, mit dem es sich versöhnen, das sich abhaken ließe.

Schochs Roman versöhnt nicht, ihr Blick auf die diffuse Verletzung, die das neue Familienmitglied für die Erzählerin bedeutet, ist kühl. Auch auf die Kinder, den Mann, die Mutter, sich selbst blickt die Erzählerin mit großer Distanz.

Obwohl (oder gerade weil?) der Roman die mikroskopische Untersuchung von einem konkreten Stück Vergangenheit ist, zweifelt die Erzählerin immer an der Zuverlässigkeit des eigenen Blick. Lief beim Anblick der unbekannten Schwester wirklich die Patrone aus, zeichnete eine „Linie des Schocks“ auf das Papier, das sie gerade signieren wollte? Nein, stellt sich heraus: „In Wirklichkeit fiel ich der wildfremden Frau schluchzend um den Hals.“

Andererseits: Nur wenige Seiten nach diesem scheinbaren Schock stellt die Erzählerin fest, dass sie eigentlich von dieser Halbschwester immer gewusst, es nur verdrängt hatte. „Ein schutzloses, in sein alltägliches Tierleben versunkenes Tier, war ich von der Erinnerung überfallen worden.“ Das „Vorkommnis“ löst etwas aus – aber es macht auch erst sichtbar, was ohnehin schon im Argen lag.

Schoch kehrt zur Autofiktion zurück

Vielleicht ist dies ein Buch über die Unmöglichkeit, sich „korrekt“ zu erinnern – und über die Tragik, die darin steckt, nicht anders zu können, als es dennoch immer wieder versuchen zu müssen. „Immer gibt es etwas, das mich zurückzieht, der Vergangenheit zu“, sagt die Erzählerin einmal, „in einen Sumpf, dem ich vergeblich zu entkommen versuche.“

Damit ist das Werk von Julia Schoch gut beschrieben. In früheren Romanen hatte sie sich bereits der DDR zugewandt – und der Leerstelle, die das Land hinterließ, als es nicht mehr war. So auch im 2018 erschienenen „Schöne Seelen und Komplizen“, dem in Potsdam angesiedelten Panorama einer Schulklasse – einmal kurz vor, einmal viele Jahre nach 1989.

„Schöne Seelen“ war das bisher leichteste Buch Schochs. Es arbeitet mit humorvoller Überzeichnung, Ironie, war vielstimmig, in Teilen fast verplaudert. Davon ist „Das Vorkommnis“ weit entfernt. Hier kehrt Schoch bewusst zur Autofiktion zurück – doch auch hier wird die Leerstelle DDR umkreist.

In manchen Passagen ist dieser Roman essayistisch

Das Seminar, das die erzählende Autorin Studierenden in den USA gibt, bezieht sich auf den deutsch-deutschen Literaturstreit, der sich nach 1990 anhand von Christa Wolfs „Was bleibt“ im Zusammenhang mit ihrer Stasi-Verstrickung entfachte. Julia Schoch setzt dem mit „Das Vorkommnis“ ein tastendes „Was war“ entgegen.

Nicht ohne zu betonen, dass sie selbst die Nähe zu der Literatur der „alten Welt“ erst wahrzunehmen begann, als sie von Bibliotheken und Buchläden bereits ausgemustert worden war. Den jungen Menschen auf der anderen Seite des Ozeans schreibt die Erzählerin auf eine Folie: „Der Melancholiker will den Verlust des Objekts seiner Begierde nicht wahrhaben.“

In manchen Passagen hat dieser Roman etwas Essayistisches. Hier wird oft Wir gesagt. Angesichts des sonst so suchenden Tonfalls lassen einen Sätze wie „Nie haben wir einen Zugriff auf das Vorleben derer, die wir lieben“ in ihrer weihevollen Wucht zurückzucken.

Beeindruckender ist das Bemühen um Aufrichtigkeit, das vor keiner Blöße zurückschreckt. Es ist jeder Seite anzulesen. Wohin immer der Blick fällt, tauchen potenziell andere Details auf, die die vorherige Erinnerung in neuem Licht erscheinen lassen. Wo man auch hinschaut: Lücken und Widersprüche. Vielleicht liegt darin die Kraft dieses Romans. Er kennt kein „So war's“. Er kennt nur ein: So war es. Und so. Und so war es auch.

Lena Schneider

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