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Temeswar: Blick auf den barocken Unionsplatz.

© dpa/Flavius Neamciuc

Europäische Kulturhauptstadt 2023: Aufbruch und Rückkehr

Die westrumänische Stadt legt ein spannendes Programm auf. Und die surrealistische Kunst des Victor Brauner ist wieder da.

Im Jahr 1931 malt Victor Brauner ein kleines Selbstportrait. Es zeigt den Künstler mit einem kaputten Auge; es läuft aus wie Spiegelei. Sieben Jahre später verliert er bei einem Unfall tatsächlich sein linkes Auge. „Meine Malerei hat sich gewaltsam gegen mich gewandt“, schrieb er, „und ich trage nun diese unzerstörbare Markierung im Gesicht.“

Victor Brauners Biografie ist von den Schrecknissen des 20. Jahrhunderts gezeichnet. Er wird 1903 in Rumänien geboren, Sohn jüdischer Eltern, und studiert an der Akademie der Schönen Künste in Bukarest. 1930 geht er nach Paris und gehört der surrealistischen Bewegung an. Deren Obsession mit dem Auge ist signifikant - von Luis Bunuels und Salvador Dalis Filmexperiment „Le Chien Andalou“ bis zur erotisch aufplatzenden „Geschichte des Auges“ von Georges Bataille.

Monstermaschine Hitler

Im gleichen Format schafft Brauner 1934 ein prophetisches Hitler-Bild: eine Fratze, ein blutiger Kopf mit Haken, Werkzeugen, Nägeln in der Haut, eine Monster-Maschine. 1940 flieht Brauner vor den Nazis nach Südfrankreich. Er stirbt 1966 in Paris.

Das Nationalmuseum in Temeswar zeigt jetzt die erste Victor-Bauner-Retrospektive in seinem Herkunftsland. 2023 ist Temeswar Europäische Kulturhauptstadt, zusammen mit Elefsina in Griechenland und Veszprém in Ungarn. Die Metropolen waren schon dran, West-Berlin trug den Titel 1988, mit nachhaltigem Erfolg.

Seit Längerem geht der Blick in die europäischen Randzonen, und da erweist sich Temeswar als gute Wahl. Am 16. Dezember 1989 begann hier der Aufstand gegen Ceausescu. Generalstreik, Revolution, es gab Dutzende Tote Demonstranten.

Rand und Zentrum: Die Europäischen Kulturhauptstädte funktionieren als Lernprogramm. Die westrumänische Stadt im Banat mit ihren heute 300 000 Einwohnern besitzt eine lange multikulturelle und multiethnische Tradition. Hier wurde rumänisch, ungarisch, deutsch und serbisch gesprochen. Um 1900 war Temeswar (Timisoara), ein wichtiger Industrie- und Handelsplatz. Der Bürgermeister ist ein gebürtiger Deutscher. Dominic Fritz, seit 2020 im Amt, stammt aus Lörrach.

Große Kirchen, barocke Anlagen prägen das Stadtbild im Zentrum. Das Kulturhauptstadt-Jahr bringt Aufmerksamkeit und Investitionen. Viele alte k. u. k. Gebäude zeigen sich im Februar, zur Eröffnung von „Timisoara 2023“, noch eingerüstet.

Victor Brauner kehrt nach Rumänien zurück. Aus dem Centre Pompidou sind 40 Werke für die Ausstellung gekommen, die diesen Künstler der rumänischen Diaspora als etwas an sich Bekanntes und zugleich Neues zeigt. Im September folgt eine Schau mit dem berühmten Bildhauer Constantin Brancusi (1876-1957), den es ebenfalls von Rumänien nach Frankreich zog.

Kulissenstädte mit obskuren Körperteilen, mysteriöse Frauenkörper, sexualisierte Traumlandschaften: Man findet bei Brauner die ganze surrealistische Palette, derzeit ja wieder en vogue. Manches schöpfte er aus rumänischer Volkskunst.

Während der Ceausescu-Terrorjahrzehnte zählte Brauner zu den verfemten Künstlern. Was den Clan des Diktatoren nicht davon abhielt, mit Brauners Werken Geschäfte zu machen. Verwandte des Künstlers - auch sie gingen ins Exil - erzählen davon, wie Leinwände aufgerollt hinter Brennholzstapeln versteckt wurden vor der Securitate. Es waren auch Brauner-Fälschungen im Umlauf.

Man spürt in Temeswar die Aufregung, die positive Spannung. Das „Tor zum Westen“ soll weit offen sein und Besucher anziehen. Temeswar hat einen Airport, es gibt Flüge von Frankfurt und München. Die Fahrt mit dem Auto nach Belgrad dauert drei Stunden. Sieben Stunden braucht die Bahn nach Budapest. Die mitteleuropäischen Dimensionen verblüffen immer wieder: Man weiß darüber zu wenig.

Das Kulturjahr für Europa und die Stadt beginnt mit Konzerten und Partys und Ausstellungseröffnungen. Im Mittelpunkt der Agenda steht übers Jahr die Bildende Kunst. Die Kunsthalle Bega liegt schon etwas außerhalb des alten Zentrums. Deutsche Discounter gruppieren sich um deprimierend kahle Parkplatzflächen, dahinter Plattenbau. Hier läuft die Installation „You Are Another Me - A Cathedral of the Body“.

Surrealismus und Sex

Wiederum ein europäisches Netzwerk: Die Regisseurin Adina Pintilie hat diese filmische Arbeit im vergangenen Jahr als Beitrag Rumäniens auf der Biennale in Venedig präsentiert. 2018 gewann sie mit „Touch Me Not“ auf der Berlinale den Goldenen Bären.

Verstörend, befreiend, würdevoll: Adina Pintilies Protagonisten sind nackt vor der Kamera. Sie sprechen über Intimität, Sex und Beziehungen, sie berühren einander. Queere Menschen, Liebende mit körperlicher Behinderung füllen mit ihren Geschichten die Screens, über den Raum verteilt. Ein Garten der Lust, der Schmerzen, eine ferne Erinnerung an die Surrealisten und ihre extremen Körpersujets.

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