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Frau Kutlurs Wäsche.

© Gottfried Schenk

Fotografien von Gottfried Schenk: Im Hinterhaus wohnen noch welche!

Zille reloaded: In den Siebzigern war der Klausenerplatz ein umkämpftes Sanierungsgebiet. Fotograf Gottfried Schenk das Ganze dokumentiert.

Sieht aus wie Vorkriegs-Berlin, ist aber Nachkrieg. Mit heutigen, fast nur noch an sanierte Fassaden gewöhnte Augen betrachtet ist es einfach nur verblüffend, wie marode West-Berliner Quartiere in den siebziger Jahren aussehen.

Bonjour, Tristesse!, drängt sich beim Betrachten der in Schwarz-Weiß gehaltenen Fotografie einer mit Lockenwicklern, Kittelschürze und Filzpuschen gegen die Melancholie des Hinterhofs gewappneten Wäscheaufhängerin als Gedanke auf. Er passt auch zu den anderen Motiven. Eine dicke Alte in der Kittelschürze stemmt sich auf die Fensterbank eines abblätternden Jahrhundertwendebaus. Die Arme wie Kolben. Der Blick des zu kurz gekommenen Lebens. Auf einem Hinterhof lehnen sich windschiefe Remisen an die Brandmauer. Ohne diesen Halt würden sie zweifellos sofort in sich zusammenfallen, so mürbe sehen sie aus. Den Wagen mit den Brikettbündeln für die Ofenheizung zieht ein jungscher Typ mit wuscheligem Haar mit der Hand auf den Hof. Beim Wochenmarkt auf dem Klausenerplatz stehen alte Männer mit rund gearbeiteten Rücken und Arbeitermützen am Kartoffelstand.

Sie sind gewissermaßen die fotografischen Verwandten der auf demselben Platz gut siebzig Jahre vorher in langen Kleidern und Schürzen einkaufenden Frauen, die Heinrich Zille fotografiert hat. „Markt auf dem Klausenerplatz“ heißt dessen Foto, das sich ständig im U-Bahnhof Fehrbelliner Platz in der dortigen Zille-Fotoausstellung betrachten lässt. Dieses Alt-Berliner „Milljöh“, das der berühmte Zeichner, der als Fotograf ein spät entdeckter und geehrter Avantgardist der Straßenfotografie war und knapp vierzig Jahre lang in Charlottenburg in der Sophie-Charlotten-Straße 88 gewohnt hat, scheint in den jetzt in der Villa Oppenheim ausgestellten Fotos wieder auf. „Auf den Spuren von Heinrich Zille. Kiezfotografien 1976 bis 1984“ ist denn auch der Titel der Kabinettausstellung des Museums Charlottenburg-Wilmersdorf. Sie zeigt eine Auswahl von 28, meist schwarz-weiß gehaltenen Fotos des Fotografen Gottfried Schenk. Sie sind eine Auswahl aus den 130 Fotografien, die er in dem parallel erschienenem Bildband „Charlottenburgs rote Insel“ zeigt, der – flankiert von informativen Texten – die Stimmung jener Zeit noch weit ausführlicher beschreibt.

Die Geburtsstunde der "behutsamen Stadterneuerung"

Der 1949 in Kufstein geborene Österreicher Schenk, der seit 1970 in Berlin lebt, ist nämlich alles andere als ein allein in die Melancholie eines im Niedergang begriffenen Viertels verschossener Beobachter. Er kämpfte damals selbst als Aktivist der Mieterinitiative Sanierungsgebiet Klausenerplatz gegen den von der Wohnungsbaugesellschaft Neue Heimat und Teilen des Senats geplanten Abriss des von Kriegszerstörungen weitgehend verschonten Gründerzeitquartiers und dokumentierte die Versammlungen, Demos, Straßenfeste und Protestaktionen der Mieter in den Siebzigern, die besetzen Häuser der Achtziger und deren bunte Bewohnerschar. Fotos seien nun mal ein wirksames Mittel, um Inhalte zu transportierten, erzählt er beim Rundgang. „Insofern waren sie auch Agitprop.“ Und wurden wiederum für Ausstellungen, Zeitungen und Plakate der Initiative eingesetzt.

Bunter Protest: Politisch bewegte Clowns vor dem Laden der Mieterinitiative Klausenerplatz in der Nehrungstraße 11, im Jahr 1979.

© Gottfried Schenk

Die Auseinandersetzung und schließlich in Teilen erfolgreiche Erhaltung des historischen Baubestands in dem südlich des Schlosses Charlottenburg gelegenen Gebiet zwischen Spandauer Damm, Schloßstraße, Sophie-Charlotte-Straße und Knobelsdorffstraße ist als die Geburtsstunde der „behutsamen Stadterneuerung“ in die Baugeschichte eingegangen. Und diente später als Blaupause für viele ähnliche Altbausanierungsprojekte in Kreuzberg und Schöneberg. Ein Stück Stadtgeschichte, das angesichts jetziger Gentrifizierungsdebatten zum rechten Zeitpunkt wieder ins Bewusstsein rückt.

Kriegerwitwen, Studenten, Künstler und türkische Einwanderer – das sind Gottfried Schenks Nachbarn, als er 1974 in den Charlottenburger Kiez zieht. Die Frau, die in der Kittelschürze und Schlappen auf dem Hof steht, ist eine Nachbarin. Sie wohnte in der Seelingstraße im selben Haus wie er. „Frau Kutlur aus dem ersten Stock“.

Weder der Hof noch die Frau, nur die Kleidung des weglaufenden Jungen gibt Hinweise zur Entstehungszeit. Es ist der sozialdokumentarische Schnappschuss eines linken TU-Studenten, der Georg Schenk damals war, und doch von einer über Ort und Zeitpunkt hinauswachsenden Kraft.

Zum Fotografen, der er heute ist, haben ihn die Stadt, die Zeit und Heinrich Zille gemacht, erzählt Schenk. Zille sei ein maßgeblicher Einfluss für seine Art zu fotografieren. Als in den Siebzigern ein erster Bildband mit den bis dato verschollenen Zille-Fotografien herauskam, sei das ein Erweckungserlebnis gewesen. Und dann noch der Genius loci. Die politisch deprimierende Stimmung in der Mauerstadt. Schenk wusste plötzlich, was die Stunde geschlagen hatte. „Ich wohne hier“, sagte er sich, „da drüben hat Zille gewohnt: Du musst auch was machen.“ Sich einmischen. Und fotografieren, was um ihn herum in dem dem Verfall preisgegebenen Arbeiterviertel mit früher 13 000 und heute 10 000 Einwohnern passiert. Und was die Bewohner an Kampfparolen an die Wände malen oder an die Balkone hängen: „3 DM Miete sind genug, alles andere ist Betrug“, „Neue Heimat und Senat ist ein Gangstersyndikat“ oder an einem besetzten Haus „Kommunistische Arbeitsscheuenzentrale“. Sehr erhellend ist auch der Zettel von 1980, der Bauarbeiter in einem halb verfallenen Haus zu behutsamem Vorgehen auffordern soll: „Im Hinterhaus links und rechts wohnen noch welche, nur damit Sie Bescheid wissen. Danke!“

Die ehemaligen Mitstreiter des Fotografen wohnen noch fast alle am Klausenerplatz

Das Grußwort zum Bildband hat übrigens ein Politiker geschrieben, der auch auf dem Foto einer der turbulenten Mieterversammlungen – noch mit jugendlichem Schnauzbart – verewigt ist: Ehrhart Körting, SPD. Er wurde 1975 Baustadtrat in Charlottenburg und setzte zusammen mit dem später als „Vater der behutsamen Stadterneuerung“ berühmt gewordenen Architekten Hardt-Walther Hämer das Modell Altbaureparatur unter Erhaltung der Bausubstanz an einem Musterblock um. Der Traum von einer preiswerten Sanierung sei nicht überall gelungen, räumt Körting ein. Teilweise sei sie am Klausenerplatz jedoch geglückt und habe vorweggenommen, was man heute andernorts in der Stadt mühsam mit Milieuschutzverordnungen erreichen wolle.

Gottfried Schenk, der schon lange in Schlachtensee lebt, ist sich jedenfalls der Pilotfunktion der 1973 gegründeten Mieterinitiative gewiss. „Die Gegend um den Klausenerplatz ist ein schönes Viertel geworden. Fast alle meine ehemaligen Mitstreiter wohnen noch dort. Da hat was funktioniert und das macht mich stolz.“

Gottfried Schenk: Charlottenburgs rote Insel. Vom Zille-Milieu zum Klausenerplatz- Kiez, Bebra-Verlag, 144 S., 142 Abb., 20 €. Fotoausstellung: Villa Oppenheim, Schloßstr. 55, bis 8. Januar, Di–Fr 10–17 Uhr, Sa/So 11–17 Uhr

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