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Christian Kracht

© ddp

Belletristik: Ein bisschen Spaß muss sein

Willkommen in der Schweizerischen Sowjetrepublik: Christian Kracht schreibt mit "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" eine retrofuturistische Fantasie.

Von Gregor Dotzauer

Wenn man wüsste, ob man ihn eher vor seinen Freunden schützen soll oder eher vor seinen Feinden. Bei Christian Kracht aber weiß man nie. Wie ernst es ihm mit dem ist, was er sagt. Wie ernst er den nimmt, dem er etwas sagt. Und ob er überhaupt etwas gesagt hat, wenn er etwas gesagt hat. Christian Kracht ist eine Art steinerne Sphinx, bei der man darauf wartet, dass sich ihren Lippen ein orakelhaftes Murmeln entringt. Die auf Knien rutschenden Bewunderer vernehmen offenbar Dinge, die in den Ohren der Gegner nach dem glatten Gegenteil klingen. Was daran liegt, dass Kracht notorisch ungern Dinge wirklich meint und lieber sein Pokerface vom Publikum abwendet, eine Zigarette raucht und sich was grinst.

Zehrt an ihm eine kleine Zivilisationsverzweiflung oder wird ihm erst so richtig warm ums Herz, sobald ihn ein Gefühl der Entfremdung übermannt? Jagen ihm totalitäre Staaten wie Nordkorea durch die Vollkommenheit ihrer künstlerischen Selbstinszenierung Wohlseinsschauer über den Rücken oder empfindet er einen Diktator wie Kim Jong-Il als groteske Lachnummer? Die Alternativen führen nirgendwohin. Wer über Christian Kracht nachdenkt, denkt über den Stand der ironischen Rede nach – und jenseits aller Rhetorik über die Möglichkeit von Ironie als eine Lebenshaltung.

Kracht, 1966 im Kanton Bern geboren, hat zwei Romane geschrieben, die einen herausragenden Platz in der deutschen Nachwendeliteratur einnehmen. Der eine, sein Debüt „Faserland“ aus dem Jahr 1995, gibt mit boshafter Trauer Auskunft über die mentale Leere einer Generation, die Wohlstandsstolz und klassische Statussymbole hinter sich gelassen hat und nurmehr eine gleichgültige Markenartikelwelt bewohnt. Was daran Kritik, was Affirmation ist, verschwimmt in einer Empfindung, die doch niemand so genau erfasst hat wie Kracht. „Faserland“ gilt, wie Moritz Baßler, der führende Theoretiker des deutschen Pop-Romans, geschrieben hat, zurecht als „historische Wendemarke“ und „Gründungsdokument einer literarischen Bewegung“.

Der andere Roman, „1979“, erschien im Herbst 2001, kurz nach dem 11. September, und musste wie eine Bußpredigt an die Adresse der gelangweilten Partyfreaks aus „Faserland“ gelesen werden. Manche glaubten allen Ernstes, hier werde das Ende der sogenannten Spaßgesellschaft verkündet, nur weil der Protagonist, der im ersten Teil mit einem Freund angeödet durch den vorrevolutionären Iran reist, im zweiten Teil in einem chinesischen Umerziehungslager interniert wird und sich am Ende, von Blutspenden und freiwilliger Selbstkritik geläutert, zum besseren Menschen erklärt. Dabei müsste einem schwindlig werden vor den Ironiesignalen, die durch die kalkulierte Dürre dieser Prosa geistern. Ein erster Höhepunkt ist erreicht, wenn der Protagonist, auf der Ladefläche eines Lastwagens mit anderen Häftlingen eingepfercht, sich „darüber glücklich“ zeigt, „endlich seriously abzunehmen“ und seine Rippen und Hüftknochen „endlich, endlich weit vom Körper“ heraustreten. Im finalen Purgatorium stapft er durch die Latrinen, um Maden für die lebensrettende Madensuppe abzuschöpfen.

Als Kontrafaktur zu den literarischen Versuchen, Auschwitz oder den Gulag zu beschreiben, ist das mehr als geschmacklos. Doch erstens darf man nicht vergessen, welche ironischen Strategien auch ehemalige Lagerhäftlinge wie Imre Kertész oder Tadeusz Borowski in ihren Texten verfolgen. Und zweitens entsteht ein vollständiges Bild erst dadurch, dass man den Blick wendet und Krachts Grauensvision auf die magersüchtige Gegenwart anwendet. In beiden Richtungen geht es dieser Umwertung aller Werte um die Ironisierung des Nichtironisierbaren, in einem weitergehenden Sinn also um die Erzählung des Nichterzählbaren und um eine Probe darauf, wie weit sich Ästhetik und Moral entkoppeln lassen – vielleicht in der Hoffnung, dass im letzten Moment das Band doch nicht reißt und ein neuer Halt entsteht.

„1979“ ist ein germanistisch schon fast überforschtes Unikum: Einige Arbeiten präsentiert Kracht auf seiner Website wie eine Trophäe, als wollte er sich zum unausdeutbaren Rätselmann der deutschen Literatur stilisieren. Sein neuer Roman „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ gibt allerdings nur insofern Rätsel auf, als man sich fragen muss, ob dieser Autor nicht überschätzt wird. Denn die verbreitete Ansicht, dass es zwei Krachts gebe, einen klugen, der vertrackte Romane schreibt, und einen schnöseligen Provo, der in Interviews fragwürdiges Zeug von sich gibt, in „Tristesse Royal“ schwelgt oder zuletzt in „Methan“ mit Ingo Niermann eine kosmische Weltverschwörung ausmachte, bekommt mit dieser retrofuturistischen Fantasie endgültig einen Riss. Man möchte jetzt nicht noch einmal hören, dass Kracht der wahre Erbe von Joris-Karl Huysmans’ Ästhetizismus sei, Oscar Wildes Dandytum fortführe und Susan Sontags Camp-Theorie auf den neuesten Stand gebracht habe. Man möchte ein klares Wort, ob sich dieses Buch anders verstehen lässt denn als schlechter Scherz.

Es spielt in der Gegenwart eines von fast hundert Jahren Krieg erschöpften Landes – und in einer technisch wie sprachlich antiquierten, mehr oder weniger auf dem revolutionären Stand von 1917 verharrenden Umgebung: Willkommen in der Schweizerischen Sowjetrepublik, der SSR! In diesem endzeitlichen Paralleluniversum ist die Weltgeschichte einmal gegen den Strich gebürstet: Lenin hat den politischen Umsturz in Zürich angezettelt, und ein blühendes Afrika rekrutiert den Truppennachwuchs. Der Erzähler, ein Schweizer Politkommissär afrikanischer Herkunft und schwarzer Hautfarbe, hat den Auftrag, den Konterrevolutionär Brazhinsky aufzuspüren und folgt ihm in die Schweizer Alpenfestung, das Réduit, ein von Soldaten wimmelndes Nibelheim, das als Trutzburg gegen die Deutschen dient.

Wo man hinsieht: Alles hat „etwas furchtbar Abnormes“. Das Herz des Erzählers schlägt rechts, sein Stiefelbursche ist mongoloid, die Frau, mit der er Zärtlichkeiten austauscht, hat „neben ihrer Achselhöhle eine Steckdose in die Haut eingelassen“, er reißt einem Kameraden, dem ein Blutegel in die Nase gekrochen ist, das halbe Tier mitsamt etwas Nasenfleisch heraus, und ein Zwerg namens Uriel rettet ihm das Leben, indem er statt seiner den Platz auf einer Tretmine einnimmt. Nichts will auch nur eine Sekunde lang ernst genommen werden: weder der Funsplatter solcher Szenen noch das lächerliche Abenteuer-ferner-Länder-Stilpathos, weder das Spiel mit I-Ching-Weisheiten noch die wirre Philosophie rund um eine dinghafte Noumenon-Sprache. Und als einmal Schmetterlinge aufflattern, ist es ein „Effektschwarm“.

Literarisch ist das von einer himmelschreienden Belanglosigkeit – als Zeugnis einer in die Jahre gekommenen Pose jedoch aufschlussreich. Denn Kracht schreibt, um Überbietung bemüht, gegen eine allfällige Ironisierung an, die alle Unterscheidungen zwischen Hoch- und Populärkultur, Kunst und Werbung kassiert hat. Er ist der Schweizer Don Quijote in einem Land, das den fröhlichen Paradigmenwechsel von Helmut Schmidt zu Harald Schmidt vollzogen und das Realitätsprinzip aus den Augen verloren hat. Eine rückhaltlose Ironie, die sich auf keinen Gegenstand mehr bezieht, nennt man aber auch Zynismus.

Kein aufgeklärter Mensch, und man kann das durchaus als ironiebedingten Fortschritt begreifen, denkt noch in den Kategorien absoluten Wissens. Das gilt für Naturwissenschaftler wie für Philosophen – und im ganz Privaten. Aber dass man dennoch etwas wissen wollen muss, um überhaupt zu einem Handeln zu gelangen, steht außer Frage. Die Fähigkeit, zu seinen Überzeugungen in Distanz zu treten, erspart einem nicht, welche zu entwickeln. Insofern gehört Kierkegaard, der Ironie als Mittel ansah, auf dem Weg über die Verzweiflung zu einer religiösen Wahrheit vorzustoßen, zwar einer fernen Zeit an. Die Notwendigkeit einer Wahl aber, die den Übergang von einer rein ästhetischen zur ethischen Persönlichkeit markiert, gilt noch heute.

„Das Ästhetische“, heißt es in „Entweder – Oder“, „ist nicht das Böse, sondern die Indifferenz, und daher eben sagte ich, dass das Ethische die Wahl konstituiere. Es ist deshalb nicht so sehr die Rede davon, dass man wähle, ob man das Gute oder das Böse will, als vielmehr davon, dass man das Wollen wählt; damit aber ist wiederum das Gute und das Böse gesetzt.“ Christian Kracht hat sich bisher erfolgreich gewehrt, eine solche Wahl zu treffen. Hinter seiner koketten Bewunderung für Figuren wie Kim Jong-Il, den er im Vorwort des Bildbandes „Die totale Erinnerung“ zum postmodernen Simulationskünstler des kommunistischen Nordkorea stilisiert und die in der Sowjetfolklore des neuen Romans ihre Fortsetzung findet, verbirgt sich weniger ein Sympathisieren mit totalitären Denkmustern als das belustigte Staunen, dass es überhaupt noch Gesellschaften jenseits der Ironie gibt. Sie bieten die letzte Möglichkeit, die Waffen der Ironie ungeschützt zu erproben – den größtmöglichen Distinktionsgewinn.

Ihn braucht der Autor. Der Erzähler von „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“, der in seiner sich selbst undurchsichtigen Stumpfheit den Erzählern der letzten beiden Romane gleicht, darf gar nicht intelligenter sein. Sonst würde er gegen die Verhältnisse aufbegehren. Das wiederum kann Kracht nicht brauchen. So bleiben seine Protagonisten letztlich umerziehungsresistent. Sie gehen höchstens früher oder später an ihrer eigenen Blasiertheit zugrunde.

Christian Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Roman.

Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008. 149 Seiten, 16,95 €.

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