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Stets den Kopf in der Tür. Frau S. war redselig.

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Kolumne Zimmerreisen (9): Meine Zeit mit der wundersamen Frau S.

Auch in den eigenen vier Wänden können sich Welten auftun. Wir bleiben zu Hause – und lassen uns das Reisen nicht nehmen. Diesmal: Erinnerungen an eine besondere Nachbarin.

Frau S. war eine kleine Frau, gebückt und grauhaarig. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, habe ich nie mehr als ihren Kopf im Türspalt gesehen. Das kam mir damals selbstverständlich vor. Frau S. ging kaum aus dem Haus; wahrscheinlich hätte ich sie auf der Straße gar nicht erkannt.

Dieser Kopf im Türspalt also tauchte regelmäßig immer dann auf, wenn ich allein die Treppe hochkam. Dann wollte dieser Kopf allerhand Dinge wissen. Ob der Mann in meiner Wohnung gut zu mir sei und wir vorhätten, zu heiraten. Zum Beispiel.

Frau S. war meine Nachbarin in Weißensee, zwei Jahre lang. Dritter Stock, unsaniert, herrlich preiswert. Die Fragerei von Frau S. war mir erst lästig, bald gehörte sie dazu. Und sie fragte nicht nur, sondern gab auch bereitwillig Auskunft. Von ihr erfuhr ich, dass der große Haken in der Decke unseres Korridors früher mal einer Kinderschaukel gedient hatte.

Und als der schweigsame, freundliche Nachbar mit der Alkoholfahne von gegenüber nicht mehr da war, wusste Frau S., warum. Sie hatte die Angewohnheit, ab und an bei ihm zu klingeln. Als er lange nicht öffnete, sorgte Frau S. dafür, dass man den Toten in seiner Küche fand.

Wenn das jetzt düster klingt, täuscht das: Es waren glückliche Jahre in Weißensee. Ein erster Job, Reisen, die Idee, dass das Leben erst beginnt. Und zu Hause der gütige Kopf von Frau S. im Türspalt.

Sie hütete ihre Geheimnisse

Bevor wir es schafften, sie zum Tee einzuladen, war Frau S. nicht mehr da. Plötzlich stand eine fremde Frau in der Tür. Ihre Tochter. Frau S. sei gestorben, nun werde ausgemistet. Ob ich was brauche? Das Betreten der Wohnung ohne Frau S. fühlte sich übergriffig an. Ich hatte den Eindruck, Frau S. wäre trotzdem einverstanden gewesen. Ich brauchte nichts, aber etwas nahm ich doch mit. Ein bequemes Stück Türkisblau im Sechzigerjahredesign. Einen Sessel.

Ein perfektes Möbel. Wunderbare Sitzhöhe. Gut zum Rücken. Bestens zum Lesen geeignet, sogar zum Stillen. Keine Ohren, keine Armlehnen, reine Form. Eine Zeit lang saß ich in Ermangelung des adäquaten Beistellmöbels (Coffeetable) sogar vorm Schreibtisch darauf. Der Stoff ist strapazierfähig, hält Flecken aller Art und deren Beseitigung aus. Das Beste ist die Farbe, ein glasklares Türkis. Ein Strahlen.

Es blieb natürlich bei dem Vorsatz, beim Benutzen des Sessels stets an Frau S. zu denken. Wenn ich jetzt den Sessel ansehe, sehe ich zuerst die Wohnungen, in denen er schon strahlte. Große, geborgte Räume und kleine, zugige Räume in Montrouge. In Weißensee, in Potsdam. Nur wenn ich wirklich lange hinsehe, sehe ich wieder Frau S.

Als sie damals starb, gab es einige Aufregung. Wie sich herausstellte, war sie unter ihrem eigenen Namen nirgendwo registriert. Ihre Tochter berichtete empört, Frau S. sei offenbar in den 1950er Jahren mal standesamtlich getraut worden und habe das nicht einmal ihr verraten. Frau S. gab eben gern Auskunft. Ganz offensichtlich nur nicht über sich.

Lena Schneider

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