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Eine Büste von Johann Wolfgang von Goethe im Jenaer Romantikerhaus.

© picture alliance/dpa

Moderner Zeitgenosse: Jeremy Adlers Biografie des Weimarer Dichterfürsten

Ein britischer Germanist hat eine Neuvermessung eines der umfassendsten und vielgestaltigsten Werke der Literaturgeschichte gewagt: das von Goethe.

Von Tobias Schwartz

Der Olymp, zumal der literarische, ist freilich eine Fiktion. Ebenso sind es die Säulen, auf denen Dichter thronen. Dennoch gibt es sie, die „Säulenheiligen“ der Literatur. Ihr Einfluss ist ihnen schlicht nicht abzusprechen, auch Fiktionen entfalten reale Wirkungen – es braucht keine poststrukturalistischen Theorie, um das zu erkennen.

Als größter Olympier gilt gemeinhin Goethe, zumindest, was die deutsche Dichtung anbetrifft. Ja, ohne ihn und die Weimarer Klassik hätte sich die heute, wenn man sich einmal umschaut, erschreckend anachronistisch wirkende Rede von Deutschland als einem „Land der Dichter und Denker“, die auf seinen Zeitgenossen Musäus zurückgeht und etwa von Madame de Staël in ihrem berühmten Buch „De l‘Allemagne“ aufgegriffen wird, kaum durchgesetzt.

Mit seiner jüngst erschienenen, intellektuellen Biografie „Goethe. Die Erfindung der Moderne“ setzt der britische Germanist Jeremy Adler, Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, dem „Weimarer Dichterfürsten“ nun nicht einfach ein weiteres Denkmal. Nein, er attestiert ihm nicht weniger als eine moderne Zeitgenossenschaft und bringt ihn in Zusammenhang mit Marx und Darwin, aber auch mit Flaubert, Ibsen, Proust und sogar, aufgrund seines, so Adler, progressiven Frauenbildes, mit der Feministin Simone de Beauvoir.

Wenn dich Hass und Neid umringen, denk an Götz von Berlichingen!“ 

Ulrich Erckenbrecht

Von jeher wird viel darüber gestritten, ob literarische Heiligenverehrung berechtigt ist oder nicht, und naturgemäß gerät dabei der Verfasser des „Werther“, des „Faust“, des „Wilhelm Meister“ und des „West-östlichen Divans“ – Werke, die zu lesen noch immer lohnt – regelmäßig ins Visier. Doch trifft es auch andere, Thomas Mann etwa oder Günter Grass.

Dem sehr deutschen Drang zum Denkmalsturz ließe sich mit einem Aphorismus Ulrich Erckenbrechts begegnen, der wiederum ohne Goethe nicht auskommt: „Wenn dich Haß und Neid umringen, denk an Götz von Berlichingen!“

Tatsächlich hat der verbreitete Affekt, verdienstvoll „große“ Menschen vom Thron stoßen zu wollen – zumal im Falle Goethes, der massiv auf uns und unsere Gegenwart einwirkt –, etwas Ödipales, wobei der „Vatermord“ bei Freud doch nur symbolisch gemeint war. Ganz anders verhält es sich außerhalb Deutschlands. Daher handelt es sich wohl um keinen Zufall, dass es nun ein Brite ist, der sich an eine Neuvermessung eines der umfassendsten und vielgestaltigsten Werke der Literaturgeschichte gewagt hat, dessen Schöpfer oft als „letzter Renaissancemensch“ bezeichnet, von Adler aber zum „Erfinder der Moderne“ geadelt wird.

Thomas Mann schrieb einmal, er könne von Goethe „nicht anders, als mit Liebe“ sprechen. Den Eindruck erweckt auch Adler und ähnlich wie der Poeta doctus und „Doktor Faustus“-Autor Mann besticht er durch breitgefächerte Gelehrtheit und eine Begeisterung für sein Sujet, die einer kritischen Distanz keinesfalls entbehrt – für Goethes (zeittypischen) Antisemitismus etwa, vor dem ihn die Bekanntschaft mit der Berliner Salonnière Rahel Varnhagen nicht bewahrte, findet er klare Worte.

Im Fokus seiner Ausführungen stehen die Werke des Dichters, deren Analyse und die Erörterung ihrer Wirkung. Die einzelnen Lebensstationen (Frankfurt, Leipzig, Strassburg, Weimar) werden eher flüchtig gestreift – wer sich hierfür interessiert, sollte eher zu Rüdiger Safranskis Biografie „Goethe. Kunstwerk des Lebens“ greifen, auch Sigrid Damms „Christiane und Goethe“ ist nach wie vor sehr erhellend. Der Begegnung mit Napoleon allerdings, diesem Treffen von Geist und Macht, widmet sich der Biograf mit besonderer Aufmerksamkeit, vor allem in Hinblick auf ein Zusammenwachsen Europas, worauf bereits Nietzsche hinwies.

Adler hebt die Bedeutung von Goethes nicht-literarischen Tätigkeiten hervor, allen voran die der politischen und naturwissenschaftlichen. Er verteidigt seine „Farbenlehre“ und rückt sein nur zum Teil von Kant, mehr noch von Spinoza beeinflusstes philosophisches Denken ins Zentrum, das er als „organisch“ und „auf das Leben ausgerichtet“ schildert. „Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird. Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf“, heißt es in der Skizze „Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort“.

Der Mensch, so Adler, erfahre bei Goethe „einen ständigen Wandel und ständiges Wachstum“, seine Identität sei stets ein Prozess. Besonders interessant ist, wie Goethe, der dem Demokraten Georg Forster noch arg aristokratisch vorkam, hier anhand von Textstellen als Vertreter eines „kosmopolitischen Liberalismus“ und „Mitbegründer des Liberalismus“ beschrieben wird. Derart zugespitzte Thesen bleiben natürlich anfechtbar. Doch wie heißt es treffend in Paulus Briefen an die Römer: Ehre, wem Ehre gebührt!

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