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Ein Jazzkonzert im Babylon, der zu den interessantesten Musikclubs in Istanbul gehört.

© IMAGO/VWPics/Lucas Vallecillos

Nach den Wahlen: Wie die Musik in Istanbul der Politik trotzt

In Istanbul existiert eine große, sehr spannende Musikszene. Aber Zensur und Wirtschaftskrise machen ihr zu schaffen. Manche Musiker denken ans Exil - die meisten wollen bleiben.

Von Yaprak Melike Uyar

Istanbul ist seit langem das musikalische und kulturelle Zentrum der Türkei, mit seiner strategischen geografischen Lage und seinem reichen kulturellen Erbe. In den 2000er Jahren war Istanbul eine Stadt mit einer pulsierenden Kunst- und Musikszene, in der man jeden Abend drei Jazzkonzerte besuchen konnte.

Das galt besonders für Beyoğlu, einen Stadtteil mit vielen Musikclubs, Galerien und Cafés. Nicht umsonst wurde Istanbul im Jahr 2010 zur „Kulturhauptstadt Europas“ gewählt.

Die neoliberale Agenda der Adalet ve Kalkınma Partei (AKP) verstärkte einersets die Kontrolle der Städte und andererseits ihre Gentrifizierung. Das hat das kulturelle Leben in Istanbul und mit ihr die lebendige Musik- und Kunstszene nach und nach verändert.

Die AKP kam nach der Finanzkrise in der Türkei im Jahr 2001 als gemäßigte islamische Partei an die Macht. Doch seitdem wird in ihrer Politik immer deutlicher, dass sie die islamische Identität stärken will. Die Partei von Präsident Recep Tayyip Erdoğan setzt auf traditionelle Kodizes und Ethiken und feiert in der Stadtplanung die traditionelle osmanische Ästhetik. 

Der Einfluss der AKP-Politik auf die Kultur- und Kunstszene Istanbuls erfolgte schrittweise. Zunächst begann sich das musikalische Zentrum Istanbuls aus dem Stadtviertel Beyoğlu zu verschieben. Im letzten Jahrzehnt wuchs die Zensur, die Inhalte künstlerischer Projekte und Musiktexte mussten sich innerhalb bestimmter Grenzen bewegen, um staatliche Repressionen zu vermeiden. Außerdem machen es die schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen in der Türkei sehr schwer, als Künstler und Musiker zu überleben.

Wellen der Gentrifizierung

Vor den 2010er Jahren war der Taksim-Platz das musikalische und kulturelle Zentrum von Istanbul. An diesem Ort hatten viele Subkulturen ein Zuhause gefunden. Doch ab 2008 begann sich die Stellung von Beyoğlu zu verändern, als Folge von Kulturkämpfen. Das erste Operngebäude der Türkei, das AKM (Atatürk-Kulturzentrum), ein Symbol der musikalischen Reformen, die zu den Verwestlichungsprozessen in den frühen Tagen der Türkischen Republik gehört hatten, wurde 2008 für eine Renovierung geschlossen.

Das Gebäude nahm seinen Betrieb 2021 wieder auf. Ein weiteres Stadterneuerungsprojekt war das Emek-Kino am Taksim-Platz, mit dessen Abriss 2010 begonnen wurde. Es musste einem Einkaufszentrum weichen, was eine große Welle von Protesten auslöste. Der städtische Transformationsprozess in Beyoğlu begann mit dem Tarlabaşı-Stadterneuerungsprojekt im Jahr 2004 und dem Galataport-Projekt, das 2015 in Angriff genommen wurde.

Neben dem Gentrifizierungsprozess führten Terroranschläge im Zentrum Istanbuls in den Jahren 2015 und 2016 zu einem drastischen Rückgang des Tourismus und der Live-Musikveranstaltungen. Im Jahr 2014 verließ das Babylon, die wichtigste Konzerthalle Istanbuls für Indie- und Jazz-Acts, das Tünel-Viertel. Viele Konzertsäle mussten in den letzten fünfzehn Jahren ihre Türen schließen, weil der Verkauf von alkoholischen Getränken eingeschränkt wurde.

Proteste am Gezi-Platz

Die Gezi-Proteste im Jahr 2013 begannen als Reaktion auf den Plan der Regierung, den Park in ein Einkaufszentrum umzuwandeln, und weiteten sich schnell zu großen Anti-Regierungs-Kundgebungen aus. Sie waren eine Reaktion auf die Kommerzialisierung des städtischen Raums in Istanbul und auf den zunehmenden Autoritarismus in der Türkei. Viele Musiker traten auf dem Gezi-Platz auf und komponierten Protestlieder als Reaktion auf die zunehmende Unterdrückung. Die Nachwirkungen von „Occupy-Gezi“ hinterließen eine anhaltende Solidarität, von der unabhängige Musik- und Kunstprojekte bis heute getragen werden.

Verbot von Live-Musik

Im April 2020 verhängte die türkische Regierung aufgrund der Pandemie Einschränkungen für Live-Auftritte und Musikveranstaltungen: Das Abspielen von Musik an Unterhaltungsorten wie Restaurants, Bars und Teegärten nach Mitternacht wurde verboten.  Auch wenn die Beschränkungen bei Fußballspielen oder Hochzeitsfeiern ab 2022 gelockert wurden, blieben die Verbote, Vorschriften und Einschränkungen für Musikveranstaltungen weiter bestehen.

Ab März 2022 wurden in der Türkei 14 Musikfestivals abgesagt. Als Reaktion auf diese Absagen und Einschränkungen reichten mehr als tausend Musiker eine Petition ein und gaben eine Erklärung mit dem Titel „Müzik susturulamaz, müzisyenler susmaz“ heraus: „Musik kann nicht zum Schweigen gebracht werden, Musiker werden nicht schweigen.“.

Das Verbot von Live-Musik brachte die gesamte Musikbranche in eine prekäre Lage. Einem Forschungsbericht zufolge hatten 86 Prozent der Musiker im Jahr 2020, als alle Live-Musikveranstaltungen aufgrund der Corona-Verordnungen eingestellt wurden, keinerlei finanzielle Unterstützung oder soziale Hilfe erhalten.

Neuer Ansatz, neue Orte

Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu, ein Sozialdemokrat der Republikanischen Volkspartei (CHP), verfolgte nach seinem Wahlsieg 2019 einen Neuansatz zur Förderung von Kultur- und Kunstaktivitäten. Zum Generaldirektor der İBB Kültür AŞ - der Kulturabteilung der Stadtverwaltung - wurde der Musikmanager Murat Abbas ernannt.

Die Zisternenbasilika Yerebatan Sarnıcı, eine der größten Touristenattraktionen Istanbuls mit mystischer Atmosphäre, und das ehemalige Gaswerk Müze Gazhane sind nach einer Renovierung zu beliebten Kulturveranstalungsorten geworden. Doch İmamoğlu wurde wegen Beleidigung eines Amtsträgers vor Gericht gestellt und aus der Politik verbannt.

Aus der Politik verbannt

Nach Recep Tayyip Erdoğans Wahlsieg gegen seinen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu stehen viele Künstler vor einem Dilemma. Zur Ernüchterung über die ausbleibende Erneuerung kommen wirtschaftliche Sorgen. Hohe Inflation, wachsende Arbeitslosenzahlen und steigendes Staatsdefizit könnten sie einer weiteren Finanzkrise führen.

Einige Musiker denken darüber nach, aus der Türkei auszuwandern, um künftig dort zu arbeiten, wo die Redefreiheit größer ist. Andere wollen lieber in der Türkei bleiben, um mit ihrer eigenen Kultur in Kontakt zu bleiben. Besonders schwierig ist die Lage für queere Menschen. Erdogans Regierung schürt Wut und Vorurteile gegen die LGBTQ-Community. Die Pride-Parade am 25 Juni war verboten worden. Als sich trotzdem hunderte Demonstranten auf dem am Taksim-Platz versammelten, kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei und rund 50 Festnahmen.

Mehr Psychedelia wagen

Mit schwierigen Bedingungen mussten Musiker schon oft fertig werden. So wurde der Swing nach dem Börsenkrach von 1929 in den USA zum Sound der Hoffnung in der Zeit der Großen Depression.

Die 2010er Jahre markierten den Aufstieg des Genres „Turkish Psychedelia“, eine Wiederbelebung bewusstseinserweiternder Rockmusik unter Verwendung anatolischer Volksmusikinstrumente. Künstler wie Gaye Su Akyol und Babazula erlangten internationale Anerkennung.

In den letzten Jahren gab es auch eine neue Welle des türkischen HipHops. Der Rapper und Multiinstrumentalist Ezhel, der mit regierungskritischen Songs aufgefallen war, lebt inzwischen in Berlin. Musiker wie Mabel Matiz und Melike Şahin sind zu Superstars aufgestiegen. Auch alternative Künstler wie Mert Demir, Kalben, Tuğçe Şenoğul oder Nova Norda finden ein großes Publikum. Die Musik in der Türkei blüht, auch wenn die Freiräume enger werden.

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