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Das Hirn eines Parkinsonkranken.

© mauritius images / Alamy Stock Photos

Proustbetrieb: Der Schriftsteller, die Großmutter und die Aphasie

Marcel Proust hatte immer Angst, an einem Gehirnleiden zu erkranken und der Sprache verlustig zu gehen. In der „Recherche“ hat er daraus poetische Funken geschlagen.

Ein Kommentar von Gerrit Bartels

Als Sohn eines Arztes war Marcel Proust die Medizin von Kindheit an bestens vertraut, erst recht, als er im Alter von zehn Jahren im Bois de Bologne seinen ersten Asthmaanfall erlitt und selbst zum Patienten wurde. Als Schriftsteller wiederum gehörte zu seinen größten Ängsten, an einem Gehirnleiden zu erkranken – was auch den Erzähler der „Recherche“ umtreibt.

Dieser glaubt, eine Gehirnerkrankung sei Schuld daran, dass es mit dem Schreiben nicht klappt, dass er es immer wieder aufschiebt, ein Schriftsteller zu werden. Bei Proust selbst ging das soweit, dass er 1918 den berühmten Neurologen Joseph Babinski darum bat, ihn am Gehirn zu operieren, weil er meinte, Schwierigkeiten beim Sprechen und Gesichtslähmungen zu haben. Was Babinski ablehnte. Im übrigen auch mit der Frage, weil er Proust nicht kannte: „Üben Sie einen Beruf aus? Welchen?“

Die Aphasie, der Verlust der Sprache, worüber Prousts Vater Adrien 1872 eine Abhandlung geschrieben hatte, ist eines der zahlreichen medizinischen Grundmotive der „Recherche“. Gleich zu Beginn spricht der junge Marcel davon, was er für Schwierigkeiten mit dem Namen von Charles Swann hat, bei allem Zauber, den dieser auf ihn ausübt, bei allem Unglück, das dieser über ihn bringt von wegen des mütterlichen Gute-Nacht-Kusses: „Dieser Name Swann übrigens, den ich so lange schon kannte, war jetzt, wie es in gewissen Fällen von Aphasie bei den geläufigsten Ausdrücken vorkommt, ein neuer Name für mich. Er war mir in Gedanken immer gegenwärtig, und doch konnte mein Denken sich nicht an ihn gewöhnen.“

Am Ende der „Recherche“ ist es der Baron Charlus, der sich bei einer Begegnung mit dem Erzähler darüber beklagt, „dass er einer völligen Aphasie entgegengehe und unaufhörlich ein Wort, einen Buchstaben anstelle eines anderen gebrauche“ – um trotzdem immer wieder zu demonstrieren, wie klar er noch im Kopf ist.

Obwohl nur zweimal der Fachbegriff dieser neurologischen Störung fällt, wird Prousts sprachgewaltiges Romanwerk von der Aphasie durchzogen: konkret beim Tod der Großmutter und dem von Bergotte, beide leiden sie unter anderem unter Sprachverwirrungen (wie auch die Mutter Prousts kurz vor ihrem Tod).

Noch mehr jedoch schlägt Proust poetische Funken aus der Aphasie, in dem er zahlreiche Figuren mittels Sprachfehler unterschiedlichster Art charakterisiert. Man denke an Françoise. Oder an den Direktor des Grand-Hotels in Balbec, der glaubt, sich gewählt auszudrücken, aber immer wieder falsche Wendungen benutzt. Oder an den Kammerdiener, der statt „Pissoir“ immer „Pistoir“ sagt.

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