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Cover zu "Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus".

© promo/Wallstein

Roman "Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus": Die krätzige Krott

Nach 50 Jahren nun endlich zu lesen: Christine Lavants „Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus“.

Es ist nicht das geringste Verdienst der neuen Werkausgabe von Christine Lavant im Wallstein Verlag, noch einmal einen frischen, von früheren Nachworten und Kommentaren unverstellten Blick auf die Kärntner Dichterin und Erzählerin (1915 bis 1973) zu eröffnen. Ihre Lyrik zählt seit den frühen Fünfzigern zum eisernen Bestand deutschsprachiger Dichtung, von ersten Zeitgenossen bis in die jüngste Autorengeneration gelesen und herausgegeben, zuletzt vor der Werkausgabe in einer Reclam-Auswahl von Kerstin Hensel. Einer ihrer ersten Bewunderer war der Erzähler Hans-Erich Nossack, der 1962 in seinen Tagebüchern schwärmte : „Wenn ich Gedichte von der Kolmar, der Sachs oder der Lavant lese, sage ich mir, daß die das ja alles viel besser gemacht haben und daß es nicht nötig ist, nun auch noch dichten zu wollen.“

Ob die Tochter eines Bergmanns aus dem Lavanttal ihre Aura als lyrisches Naturtalent ihrer ländlichen Herkunft oder einer „Selbststilisierung zur reinen Naturbegabung“ (Beda Allemann) verdankt, kann dahingestellt bleiben. Ihre frühe Lese- und Rilke-Besessenheit verschwieg sie nie und war selbst der Meinung, deswegen ihren eigenen Ton erst nach dem ersten Gedichtband „Die unvollendete Liebe“ (1949) gefunden zu haben. Zuvor waren die beiden autobiografischen Erzählungen „Das Kind“ und „Das Krüglein“ erschienen. Ihren bleibenden Ruhm als Dichterin – zweimal der Georg-Trakl-Preis und der Große Österreichische Staatspreis – begründeten drei Bände der fünfziger und sechziger Jahre, „Die Bettlerschale“, „Spindel im Mond“ und „Der Pfauenschrei“. Endgültig kanonisiert hat sie ihr Landsmann Thomas Bernhard mit seiner postumen Auswahl „Gedichte“ in der Bibliothek Suhrkamp 1987. Und zwar unter Verzicht auf „das verlogene Weltfremdmärchen mit katholischer Talschlußromantik, das Gottbefohlene, das um sie bis heute immer verbreitet worden ist“. Das dürfte endgültig vorbei sein, seit auch Thomas Kling ihr nachrühmte, sie sei „weit mehr als eine ungefickte Alleinstehende“.

Aufzeichnungen aus einem sechswöchigen Psychiatrie-Aufenthalt als Zwanzigjährige

Schwerer als ihre Lyrik hatte es stets ihre Prosa, für Harald Weinrich „ein literarisches Ärgernis“ und für Arno Rußegger der „Rehabilitation“ bedürftig. Beide Einschätzungen datieren noch vor der Werkausgabe mit einem eigenen Band nachgelassener Prosa. Dazu zählen auch die Ende der Neunziger aufgefundenen „Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus“. Bei Wallstein erscheinen sie jetzt in einer von Klaus Amann kommentierten, durchgesehenen Neuausgabe der Erstveröffentlichung. Dazu kommt ein wissenschaftlicher Apparat mit Glossar, Nachwort, Überlieferung, Quellen- und Literaturverzeichnis, fast so umfangreich wie der mit 87 Druckseiten schmale Text.

Anders als der Titel vermuten lässt, handelt es sich nicht um zeitgleiche Aufzeichnungen aus dem sechswöchigen freiwilligen Psychiatrie-Aufenthalt der Zwanzigjährigen nach einem Selbstmordversuch, sondern um eine fiktiv abgerundete Nacherzählung. Es war das die letzte ihrer drei frühen autobiografischen Erzählungen, von denen nur „Das Kind“ (1948) und „Das Krüglein“ (1949) erschienen sind, noch vor ihrem Lyrikdebüt „Die unvollendete Liebe“. Dessen Titel liefert vermutlich den Schlüssel zu dem verrätselten Schluss der „Aufzeichnungen“, für den es in ihrer realen Jugendgeschichte keine Entsprechung gibt: die geheime Liebe zu einem ahnungslosen älteren Arzt, der sie als „Primarius“ einer anderen Klinik als Kind behandelt hat. Sie nötigt ihn bei einer Wiederbegegnung zu einer grotesken „Erfüllung“ ihrer Obsession durch einen „furchtbar väterlichen Kuß“ auf die Stirn, für den er wegen seines Stockschnupfens eine „Schnupfenmaske“ anlegen muss.

Man kann diesen Schluss als Metapher für Lavants lebenslanges, schon als Kind betrogenes Bedürfnis nach Liebe und Zuwendung lesen. Auf dem Schulweg wurde sie als „blinde, krätzige Krott“, im „Irrenhaus“ wegen ihrer Brille und Schreibversuche gehänselt, die ihr ein verständnisvoller Arzt gnädig erlaubt. Die Autorin hat sich zwar freiwillig einweisen lassen, um der häuslichen Enge und Vorwürfen wegen ihres Selbstmordversuchs zu entgehen, aber als Patientin dritter Klasse auf Gemeindekosten ist sie der Willkür des Personals und Zudringlichkeit der übrigen Insassen wehrlos ausgeliefert. Um jede Minute Privatheit muss sie kämpfen, selbst beim abendlichen Bad. Diese Erfahrung schärft ihren Blick für die Machtverhältnisse des Hauses, in denen sie sich zurechtfinden und ihren klaren Geist bewahren muss, um der allgegenwärtigen Zwangsjacke und dauerhaften Hospitalisierung zu entgehen. Am Ende schafft sie es, als vermeintlich geheilt vorzeitig entlassen zu werden, obwohl sie sich noch immer vom Irrsinn ihrer Obsession bedroht fühlt.

Die beste ihrer Prosaarbeiten

Vielleicht zögerte Lavant deshalb zeitlebens, die „Aufzeichnungen“ zu veröffentlichen, obwohl ihr Verleger sie drängte und ihre Übersetzerin Nora Wydenbruck sich um einen britischen Verleger bemühte. Nach der Trennung von ihrem Mentor und zeitweiligen Lebensgefährten Werner Berg, die sie als „halbirrsinnig“ erlebte, entschied sie: „Die Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus dürfen nicht gedruckt werden ... Ich habe auf dieser Welt gar nichts mehr als meine Geschwister, und diese würden durch die Veröffentlichung peinlich bloßgestellt und ihre Ehen würden auch zerstört werden.“

Auch eine Rundfunkbearbeitung für die BBC, die Nora von Wydenbruck lanciert hatte, versuchte sie vor deren Tod 1959 noch vergeblich zu verhindern und die schon todkranke englische Freundin zur Rückgabe des Originalmanuskripts zu drängen. Das unterblieb zum Glück, da Nora Wydenbruck es erst zurückschicken wollte, wenn Lavant verspräche, es nicht zu vernichten, sondern „eventuell im Nachlaß mit dem Vermerk ,erst nach 30 (oder 50) Jahren zu veröffentlichen‘ “ aufzubewahren. Es sei „die beste ihrer Prosaarbeiten“. Davon kann man sich nach mehr als fünfzig Jahren endlich überzeugen.

Christine Lavant: Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus. Neu hrsg. und mit einem Nachwort von Klaus Amann. Wallstein Verlag, Göttingen 2016. 140 Seiten, 16,90 €.

Hannes Schwenger

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