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„Lenin in Sight“ in einer Ausstellung über den Street-Art-Künstler Banksy, 2004 in  Mülheim.

© IMAGO/imagebroker/Raimund Franken

Ukrainisches Kriegstagebuch (127): Lenins Geburtstag vergessen

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

16.-18.4.2023
Samstag früh nahm ich den Zug aus Mannheim nach Leipzig, wo ich am Theater der Jungen Welt Musik für die neue Produktion von Georg Genoux schreibe. Mit Georg, der ursprünglich aus Hamburg kommt, bereise ich immer exotische Orte – 2020 waren wir zusammen im Donbass, vor wenigen Monaten in Bautzen, und zur Zeit inszeniert er ein Stück, bei dem es um die heutigen Bewohner des Leipziger Plattenbausiedlung Grünau geht.

In Berlin hat es am Sonntagnachmittag ausnahmsweise nicht geregnet. Ich saß mit meinen ukrainischen Freunden draußen und sie erzählten unter anderem, warum Baklava aus Neukölln besser schmeckt als die aus Kreuzberg und, dass Rewe und Penny am Ostbahnhof am Sonntag offen haben, während alle anderen Supermärkte Berlins zu sind.

Die Integration geht mit rasender Geschwindigkeit voran, stellte ich fest – erst im Sommer vergangenen Jahres sind sie in der deutschen Hauptstadt gelandet, und schon kennen sie unsere Top-Secrets! Als wenige Minuten später aus der Ferne ein lautes Rattern ertönte, wurden sie etwas angespannt. Man sah ihnen an, wie unangenehm es ihnen war, sie wirkten plötzlich, als hätten sie sich am liebsten sofort versteckt. Ein Hubschrauber flog über uns.

Ähnliche Reaktion auf die Geräusche von Helikoptern und Flugzeugen und auch auf Donner und Sirenen habe ich schon öfter bei Ukrainer*innen beobachtet. Ich habe mich dabei gefragt, ob es allen, die Luftalarm und Bombardierungen erlebt haben, so geht und wie lange sie noch darunter leiden.

Eine Woche war ich nicht in Berlin und habe, sobald ich am Samstag zu Hause angekommen war, als Erstes die bei den Nachbarn auf mich wartenden Sendungen abgeholt. Maria Sonevytsky, die Musikwissenschaftlerin aus New York, hat mir im Winter versprochen, eine Platte zu schicken, nun ist sie endlich da: „Tantsi“, das legendäre erste Album der Kiewer Band VV.

Aufgenommen im Februar 1989, ist es bis jetzt nur auf Kassette und CD erhältlich gewesen – 34 Jahren hat es gedauert, bis dieser Meilenstein des ukrainischen Folk Punks auf Vinyl veröffentlicht wurde, und Sonevytsky spielte dabei gleich mehrere Rollen, auch als Enthusiastin und Vermittlerin. Parallel zur Platte kommt ihr Buch raus, das die Geschichte dieses bahnbrechenden Albums erzählt.

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„Tantsi“ erscheint pünktlich zum Record Store Day – einem Fest für die Plattensammler, bei dem eine Menge exklusiver Ausgaben, limitierter Editionen und Raritätensammlungen präsentiert werden. Dieses Jahr fällt der RSD auf den kommenden Samstag.

„Witzig, dass VVs Scheibe ausgerechnet am 22. April rauskommt, oder?“, frage ich meinen 18-jährigen Sohn. „Was genau ist daran witzig?“, antwortet er. Stimmt, eigentlich muss er das Datum nicht kennen – unsere Generation war wahrscheinlich die letzte, der Lenins Geburtstag ins Gedächtnis tätowiert wurde.

Auch unsere Premiere in Mannheim findet am 22. April statt. „Wie man mit Toten spricht“ heißt der Text von Anastasiia Kosodii, den sie gerade am Mannheimer Nationaltheater inszeniert. Trotz des Titels geht es aber natürlich auch, und vielleicht sogar vor allem, um die Lebenden – um alles, was die Ukrainer*innen in diesem Krieg bereits erlebt haben, darum, wie man damit umgeht, wie man darüber spricht.

Weder in der Berliner, noch in der Charkiwer Schule, die Boris besucht hat, bestanden die Lehrer darauf, dass die Kinder dieses glorreiche Datum lernen. Seine Altersgenossen in der Ukraine, und auch die Generationen nach ihnen, werden andere Tage ehren – 24. Februar, der russische Überfall auf die Ukraine, 31. März, die Befreiung von Butscha und Irpin, die Rückeroberung von Isjum und Cherson im Herbst, und irgendwann auch den Tag des Sieges der Ukraine.

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