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Straßenbild aus Charkiw: Verbarrikadierte Fenster werden zum Ausdruck des Protests.

© Yuriy Gurzhy

Ukrainisches Kriegstagebuch (161): Charkiw Stahlbeton

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

10. August 2023

Obwohl oft behauptet wird, heutige Kinder wären praktisch mit einem Smartphone in der Hand geboren, sind bestimmte Dinge bei ihnen genauso beliebt wie bei vorherigen Generationen. An der Brücke zwischen der Dänen- und der Kopenhagener Straße sehe ich jeden Tag junge Eltern mit einem Kinderwagen, die extra anhalten, damit ihr Sohn oder Tochter dem herannahenden S-Bahnzug winken kann. Eine Unterhaltung, die immer funktioniert. 

Auch mein Sohn Boris fand die Wink-Aktion toll, als er klein war. Ein paar Jahre später, da war er schon sechs, liefen wir jeden Morgen zusammen über die Brücke zur Schule, und irgendwann habe ich ihm die Einschusslöcher auf dem Haus in der Kopenhagener Straße gezeigt. Ich musste erklären, wie sie entstanden sind: „Vor vielen Jahren gab es hier Krieg, es ist aber ganz lange her.“ Ich erzählte Boris ein bisschen über die Nazi-Zeit und über die Landsleute von seinen Großeltern, die die Nazis bis nach Berlin verfolgt und schließlich besiegt haben. 

Charkiw lebt weiter, so gut es geht

Solche deutlichen Spuren des Zweiten Weltkrieges habe ich erst in Berlin entdeckt. Ihre Wirkung war wesentlich eindrucksvoller als die großen, pathetischen Denkmäler, die man an vielen Orten meiner Heimat finden konnte. 

Heute sind die Einschusslöcher auf jedem zweiten Gebäude des Charkiwer Stadtzentrums zu sehen, stelle ich fest, als ich mit Irena Karpa morgens zum Aufnahmestudio laufe. Die Stadt lebt ihr Leben weiter, so gut es geht – wenn wir am Hochzeitspalast vorbeigehen, fallen uns junge Paare auf, die sich zusammen mit den glücklichen Verwandten und Freunden fotografieren lassen. Die Bräute tragen traditionell Weiß, während die Bräutigame häufig in Militäruniform gekleidet sind.

Sperrholz prägt das Stadtbild

Seit dem Auftakt der Großinvasion scheint das Sperrholz zu einem neuen, nicht mehr wegzudenkenden Merkmal der städtischen Landschaft geworden zu sein. Es dient dazu, die zerbrochenen Fenster und Türen zu verbergen und wird für Street-Art-Künstler oft zur Leinwand. Neben dem Studio-Eingang stoßen Irena und ich auf eine Sperrholzplatte mit einem Gedicht von Victoria Amelina.

Das Studio M-Art hat seinen Standort in einem Kellerraum, was in Zeiten sich wiederholender Luftalarme besonders praktisch ist. Serhij Zhadan, mit dem wir hier an unserem nächsten Album arbeiten, hatte den ausdrücklichen Wunsch, viele Musikerkolleg*innen einzuladen. Da wahrscheinlich alle Legenden der Charkiwer Szene schon mal im M-Art aufgenommen haben, bedarf es bei den meisten keiner Erklärung, wo wir sie erwarten; es genügt, den Namen des Studios zu nennen.

Street-Art in Charkiw mit einem Gedicht von Victoria Amelina.

© Yuriy Gurzhy

Es kommen Saxofonist*innen, Trompeter und Ukulelisten und einmal sogar ein Chor, von dem ich viel gehört habe: der Sgt Pepper’s Lonely Hearts Choir. Die Sänger*innen tragen T-Shirts, auf denen das Gebäude von Derjprom abgebildet ist. Dieses Motiv erfreut sich in den letzten achtzehn Monaten großer Beliebtheit, da Derjprom als Symbol der Unbezwingbarkeit dieser Stadt gilt. Darunter steht „Charkiw Stahlbeton“.

Direkt vor dem Derjprom, auf dem Freiheitsplatz, filmen wir heute das Video zu „Bräuchen und Gesetzen“, einem der Songs von dem neuen Album. Der Regisseur wünscht sich, dass wir im aufgehenden Sonnenlicht erscheinen, daher sind wir bereits um sechs Uhr am Set, müde und unausgeschlafen.

Die Aufnahmesession am Tag zuvor zog sich bis in die späte Nacht. Wir hatten den Wecker auf fünf Uhr gestellt, wurden jedoch bereits um vier von der Sirene wach. Laut dem Telegram-Kanal TLK-News war eine MiG-31 über der Stadt, ein russischer Kampfjet, der mit der Hyperschallrakete Kinschal bewaffnet ist. 

Unser Dreh beginnt kurz nach sieben Uhr. Die wenigen Passanten zeigen sich von einem Dutzend tanzenden Musiker*innen am frühen Morgen unbeeindruckt. Es bedarf mehr als einer Truppe bunt gekleideter Exzentriker*innen, um einen Bewohner von Charkiw zu überraschen. Einige bleiben kurz stehen, darunter auch drei Männer in Militäruniform. Einer von ihnen erkennt uns und möchte, dass wir eine kurze Botschaft für seine Brigade spontan improvisieren. Wir willigen gerne ein, während er uns dabei mit seinem Handy filmt. 

Nach vier Durchläufen des Songs müssen wir aufhören, da die Sirene erneut heult. August 2023. Ein ganz gewöhnlicher Sommertag in Charkiw beginnt.

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