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Kinder spielen in den Ruinen von Hamburg. 1945 waren nur noch 20 Prozent der Wohnungen unversehrt.

© picture alliance / dpa

Interview mit Kirsten Boie: „Wir haben in Trümmern gebuddelt und Knochen gefunden“

Kirsten Boie erzählt in ihrem neuen Jugendroman vom Friedenssommer 1945. Ein Gespräch über Kriegskinder, verdrängte Schuld und Gewalt als Erziehungsmethode.

Frau Boie, Ihr Roman spielt im Nachkriegssommer 1945. Sie selbst wurden 1950 geboren. Wie stark hat der Krieg noch Ihre Kindheit geprägt?

Ziemlich stark. Ich glaube, das geht allen so, die in den fünfziger Jahren Kinder waren. Weil der Krieg für die Erwachsenen die prägende Zeit gewesen war. Uns ist unendlich viel darüber erzählt worden. Sie haben ständig darüber gesprochen, die Frauen beim Kaffeetrinken oder bei Familienfeiern beim Abwaschen in der Küche. Spannend daran ist, dass es rückblickend immer eine Leidensgeschichte war. Es wurde von Bombennächten erzählt, von den Lebensmittelkarten, deren Rationen kaum zum Leben reichten, vom Frieren auch nach Kriegsende noch.

Wurde auch von den Opfern der Deutschen gesprochen?

Nein. Die deutschen Kriegsverbrechen, auch nur die Tatsache, dass Deutschland den Krieg begonnen hat und schon gerade die Schoah, all das spielte überhaupt keine Rolle. Davon wussten wir als Kinder nichts. Zum Glück hat sich das seit Beginn der sechziger Jahre geändert, durch den Eichmann-Prozess in Jerusalem und den Auschwitz-Prozess in Frankfurt drehte sich das Narrativ um 180 Grad. Die Leidensgeschichte habe ich danach nicht mehr hören wollen, wenn meine Mutter damit anfing, sagte ich: Ihr seid doch selbst schuld, warum habt ihr das auch gemacht?

Hamburg zählte 1945 zu den am schwersten zerstörten Städten. Was haben Sie davon mitbekommen?

Ich habe noch selbst in den Trümmern gespielt. Aber es sah nicht mehr so aus wie in den Filmen und Fotos von kilometergroßen Flächen, aus denen nur noch skelettartige Häuser aufragten. Die waren schon abgetragen, Hamburg wurde erstaunlich schnell wiederaufgebaut. Bis ich 13 war, bin ich in Barmbek aufgewachsen, das stark zerstört war. Die Briten hatten alles bombardiert, was sie für kriegswichtig hielten, nicht nur die Werften, sondern auch solche Arbeiterstadtteile. Die bürgerlichen Quartiere wie Eppendorf blieben größtenteils verschont. Aber vom Hauptbahnhof bis Wandsbek stand 1945 quasi nichts mehr. Wir wohnten neben einem Trümmerfeld, wir Kinder spielten dort und wussten auch, was das war. Auch sonst waren die Kriegsfolgen unübersehbar, Männer mit Arm- und Beinprothesen prägten das Straßenbild.

Viele Kinder wurden auch nach der Kapitulation noch zu Kriegsopfern, weil sie mit Munition oder Blindgängern spielten. Waren Ihnen die Gefahren bewusst?

Nein. Aber die Trümmer, in denen wir spielten, waren auch nicht mehr so gefährlich. Was ich immer wieder gehört habe, waren Geschichte über Züge, die langsamer wurden, wenn sie in die Bahnhöfe einfuhren. Da sind Kinder aufgesprungen, um Kohlen zu klauen. Dabei kam es zu furchtbaren Unfällen. Das Verhalten Kindern gegenüber war vollkommen anders als heute, sie mussten helfen, für die Familien das Überleben zu sichern. Und sie hatten Schreckliches erlebt, die Bombennächte im Luftschutzkeller verbracht und wenn sie bei Tageslicht wieder rauskamen, war es manchmal die Hölle. Sie hatten Leichen gesehen. Die Eltern konnten ihnen kaum helfen, das zu verarbeiten.

Kirsten Boie
Kirsten Boie

© Indra Ohlemutz

Waren die Trümmer eine Art Abenteuerspielplatz?

Wir haben dort auch gebuddelt, manchmal Scherben gefunden, manchmal sogar Knochen. Heute bin ich überzeugt, dass sie von Hühnern stammten, nicht von Menschen. Wir fanden das alles aufregend, nicht bedrückend.

Das Buch erzählt aus der Perspektive von drei Jugendlichen. Jakob musste sich als Sohn einer jüdischen Mutter in den Ruinen verstecken. Traute teilt ihren Platz mit einquartierten Flüchtlingen. Der ehemalige HJ-Anführer Hermann trauert um Deutschlands verlorene Größe. Warum haben Sie sich für diese Konstellation entschieden?

Weil ich möglichst viele Facetten der damaligen Zeit darstellen wollte. Denn die Stunde Null gab es zwar politisch, aber keineswegs in den Köpfen. Für Jugendliche hatte sich im Bewusstsein sechs Wochen nach Ende des Krieges kaum etwas geändert, wie sollte es auch? Ich schreibe über 14-Jährige, die ihr ganzes Leben lang mit der nationalsozialistischen Indoktrination aufgewachsen waren, in der Schule, im Rundfunk oder der Wochenschau und der Hitlerjugend (HJ), der sie im Prinzip beitreten mussten. Für einen wie Hermann muss es unglaublich schwer gewesen sein, dass die Briten, die die Stadt bombardiert hatten, nun Besatzer waren, die den Alltag organisierten. Bis zuletzt war den Jugendlichen eingebläut worden, dass der Krieg mit Wunderwaffen noch zu gewinnen sei. Daran haben sie geglaubt, wenn ihre Eltern ihnen nichts anderes erzählten. Zu erkennen, dass das alles eine große Lüge war, muss wahnsinnig schwer gewesen sein.

Jakobs Schicksal erinnert an Ralph Giordano, der aus einer „Mischehe“ stammte und die Befreiung in einem unter Wasser stehenden Keller erlebte. War er ein Vorbild für die Figur?

Nein. Aber natürlich kenne ich Giordanos Geschichte, wir sind uns auch persönlich begegnet. Weil ich zeige, wie schwer die Situation auch für Jugendliche war, deren Familien nicht verfolgt wurden, wollte ich unbedingt ein jüdisches Kind dazunehmen, um die deutsche Opfererzählung zu durchbrechen. Das Problem dabei war, dass die Deportationen in den Jahren 1941 bis 1943 stattfanden. Danach gab es nur noch ganz wenige jüdische Menschen in Hamburg. Nahezu alle lebten in Ehen mit einem nicht-jüdischen Partner. Als ich begann, dazu zu recherchieren, habe ich viel dazugelernt. Etwa, dass die Menschen aus solchen Ehen diejenigen waren, die im Februar 1945 mit dem letzten Transport ins KZ Theresienstadt deportiert wurden. Und praktisch alle sind zurückgekommen. Weil die Mörder nicht mehr die Zeit hatten, sie umzubringen. Das gab mir die Möglichkeit zu einem kleinen Happy End, dafür bin ich dankbar. Gerade Kinder brauchen so eine Zuversicht.

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An einer Stelle heißt es, dass Jugendliche 1945 schon mit 14 erwachsen sein mussten. Hat der Krieg einer ganzen Generation die Kindheit geraubt?

Natürlich. Wir machen uns heute Sorgen wegen aller möglichen Erlebnisse, die unsere Kinder haben. Ihnen wird auch viel weniger zugemutet als in früheren Zeiten. Beides ganz zu Recht. Dass Narben zurückblieben bei den Kriegskindern, hat man erst sehr viel später gesehen. Diese Generation hat alles gewuppt. Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, als wäre nichts gewesen. Erst ab den neunziger Jahren erschienen Bücher, die von den Traumata berichteten. Das zeigt, wie lange der Schrecken nachgewirkt hat und wie nötig es war, irgendwann darüber zu sprechen.

Hermanns Vater verlor beide Beine und verprügelt ihn mit seiner Krücke. Ist das typisch, die Kriegsheimkehrer gaben ihre Gewalterfahrung an die Kinder weiter?

Davon haben wir oft gehört und es ist ja fast auch nachvollziehbar für jemanden wie den Vater. Er hat sicher nicht geglaubt, irgendwann Prothesen bekommen zu können, mit denen er wieder laufen lernt. Oder einen Rollstuhl. Dass dann aus Verzweiflung Wut wird, ist ein normaler psychischer Mechanismus. Viele Spätheimkehrer, die aus der Gefangenschaft kamen, wurden anfangs gefeiert. Papa ist wieder da, hieß es. Bald danach folgte oft die Scheidung. Weil diese Männer unerträglich geworden waren.

[Kirsten Boie, 71, zählt zu den erfolgreichsten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen. Die ehemalige Lehrerin wurde mit Buchreihen etwa über den Ritter Trenk bekannt. Für ihr Gesamtwerk sie den Deutschen Jugendliteraturpreis. Ihr neuer Roman "Heul doch nicht, du lebst ja noch", 192 S., 14 €, ist im Oetinger Verlag. erschienen]

Erziehung mit Schlägen zu verbinden, war bis weit nach dem Krieg verbreitet. Haben Sie selbst die Erfahrung gemacht?

Überhaupt nicht, da habe ich großes Glück gehabt. Meine Eltern wären nicht mal auf die Idee gekommen. Aber das Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung wurde erst im Jahr 2000 erlassen.

Gab es in Ihrer Schule Ohrfeigen?

Nein, ich war allerdings immer auf reinen Mädchenschulen. Wir hatten meist Lehrerinnen, doch auch bei den Lehrern, konnten wir uns nicht vorstellen, dass sie uns schlagen. Das Äußerste war ein Choleriker, der einmal einer Schulkameradin den gesamten Pullover aufgeribbelt hat, weil sie gestrickt hatte. Aber mein Mann kommt aus Baden-Württemberg, bei ihm war es üblich, dass man mit dem Lineal eins übergezogen bekam. Das war von Land zu Land, vielleicht von Lehrer zu Lehrer unterschiedlich.

Warum haben Sie das Buch gerade jetzt geschrieben?

Auslöser waren die Berichte und Filme zum 75-jährigen Kriegsende im Jahr 2020. Sie haben meine Kindheitserinnerungen aktiviert. Zusätzlich hat mich das Wiedererstarken des Rechtsradikalismus zum Schreiben motiviert. Wir sehen ja, wie immer mehr Jugendliche nach rechts abrutschen. Für sie liegt das Kriegsende unglaublich weit zurück. Das sind nun nicht mal mehr die Großeltern, die es erlebt haben. In der Schule haben die Jugendlichen von der Shoah und von deutschen Kriegsverbrechen gehört, aber das hat mit ihnen persönlich nichts mehr zu tun. Manche denken: Mir wäre doch nichts passiert, ich hätte zu den Starken gehört. Deshalb ist es wichtig zu erzählen, dass der Krieg auch die Stärksten schwach machte und leiden ließ.

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