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Was von Mariupol übrig blieb.

© AFP / AFP/Stringer

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (80): Igors Vater hat es von Mariupol nach Kiew geschafft

Der ukrainische Autor, DJ, und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Von Yuriy Gurzhy

2.11.2022
Bist du am Wochenende in Berlin, fragt mich Boris. Ich gerate kurz in Panik und denke, er möchte wahrscheinlich wieder vorschlagen, mit ihm ins Fitnessstudio zu gehen. Vor Monaten habe ich versprochen, dass wir eines Tages gemeinsam Sport machen – und habe seitdem die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen, weil ich leider nie dazu komme.

Aber ich liege falsch, denn mein Sohn hat etwas ganz anderes vor: „Am Sonntag möchte ich im Mauerpark ein paar Songs performen und Spenden für die Ukraine sammeln“, sagt er. „Hättest Du vielleicht Bock mitzumachen?“ Wow! Ich schaue, wann mein Zug aus Dresden am Sonntag ankommt.

Wir besprechen das Repertoire. Boris würde gern bis dahin den einen oder anderen ukrainischen Song lernen. Ich bin jedoch skeptisch, ob das so schnell klappt. Man muss ja nicht unbedingt etwas Ukrainisches singen, wenn man Spenden für die Ukraine sammelt – Nirvana, Creedence Clearwater Revival und Bob Dylan kommen bestimmt auch gut an, sage ich und versuche mich daran zu erinnern, wann ich zum letzten Mal Straßenmusik gemacht habe.

Wenn ich mich nicht irre war ich genau so alt wie Boris, also 18, und sang mit Freunden im Schewtschenko Park im Zentrum von Charkiw. Besonders erfolgreich sind wir damit nicht geworden. Wahrscheinlich waren 1993 unsere langen Haare und Songs wie „Knockin’ On Heaven’s Door“ oder „Dupa Djalizovaja“ (Der Stahlarsch) der Lwiwer Band Braty Gadyukiny zu exotisch für die Charkiwer Passanten.

Mein Handy vibriert. Der seit gestern still gewordene Chat mit meinen Kiewer Musikerkollegen ist wieder zum Leben erwacht. Nächste Woche haben wir einen gemeinsamen Auftritt in Frankreich. DJ Derbastler wollte uns drei Songs schicken – das klappt aber erst jetzt, er hatte keinen Strom und nur gelegentlich Internet.

Mein im Zentrum Kiews lebender Freund Oleg Sosnov meldet sich ebenfalls. Er hat Glück, schreibt er, bei ihm gibt es Strom, dafür gab es aber gestern den ganzen Tag kein Wasser. Und es wird nicht geheizt, obwohl es draußen immer kälter wird.

Es gab keine Telefonverbindung in die besetzten Gebiete mehr

Eine Nachricht auf Instagram – der ukrainische Musikjournalist Igor Panasenko hat mich in seiner Story getaggt. Neulich wurde er vom Berliner Sender Flux FM eingeladen, seine Top 10 des zeitgenössischen ukrainischen Pop zu präsentieren. Unter den Songs, die er ausgewählt hat, ist einer von Serhij Zhadan und mir. „Dankeschön, es ist mir eine Ehre!“, schreibe ich und frage, wie es ihm und seiner Familie geht.

Igor lebt in Kiew, kommt aber aus Mariupol. Früher fuhr er regelmäßig hin, um seinen Vater zu besuchen. Einmal, im August 2016, haben wir uns in Mariupol getroffen – ich war gerade auf einer Mini-Tour mit Zhadan und seiner Band. Mit dabei war auch der Berliner Regisseur Marcus Welsch, der diese verrückte Reise in den Wilden Osten der Ukraine dokumentieren wollte.

Marcus Welsch interviewt Igor Panasenko in Mariupol, August 2016.

© Yuriy Gurzhy

Ich habe mit Igor ausgemacht, dass er uns das Stadtzentrum zeigt, während die anderen Soundcheck machen. Die Erinnerung an diesen warmen, sonnigen Sommernachmittag in der Stadt, die inzwischen von der russischen Armee so gut wie komplett zerstört wurde, macht mich jedes Mal traurig und wütend.

Ich frage Igor, wie es seinem Vater geht. Lange habe ich mich nicht getraut, ihm diese Frage zu stellen. Ich wusste, das der Vater in Mariupol geblieben war , und Igor versucht hat, ihn da rauszuholen. Sie hatten Anfang März zum letzten Mal telefoniert, dann gab es keine Telefonverbindung mehr in die besetzten Gebiete. Über einen Monat hatten sie keinen Kontakt.

Der Vater konnte Mariupol Anfang April verlassen und war in einem Filtrationslager. Er bekam eine Lungenentzündung, ist im Krankenhaus gelandet und hat nach einigen weiteren Abenteuern Ende Mai Kiew erreicht. Ihm geht’s immer besser – langsam aber sicher, schreibt Igor zurück.

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