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An der Tür in Minsk, vor dem Umzug nach Berlin. Die belarussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch im Jahr 2020..

© dpa/Uncredited

Zwischen den Kriegen: 60 Jahre Berliner Künstlerprogramm

In der Akademie der Künste feiert das international renommierte Stipendienprogramm unter dem Motto „Here and Now“

Von Gregor Dotzauer

Was sind, sang einst Peter Alexander, „schon 60 Jahre, die gelebt sind und geschehen“?  Unter Anspielung auf eine heillos überstrapazierte Rilke-Zeile empfahl er: „Was zählt, ist nicht das Siegen, nur dass man weitermacht.“ Angesichts der großen Vergangenheit des Berliner Künstlerprogramms des DAAD sollte man ruhig offensiver werden.

Feierte das BKP nicht gerade erst ein halbes Jahrhundert seiner Gründung durch die New Yorker Ford Foundation? Schlug es nicht erst 2017 in der Kreuzberger Oranienstraße neue Galeriezelte auf? War es, quer durch die Sparten, über Kalten Krieg, Mauerfall und Zeitenwende hinweg, nicht das bedeutendste künstlerische Frühwarnsystem, das die Stadt je hatte? Und gaben sich spätere Weltstars von Ingeborg Bachmann über Isang Yun bis zu Damien Hirst nicht nur so die Berliner Klinke in die Hand?

Gedämpfte Feierlaune

Bei der Geburtstagsfeier zu 60 Jahren BKP in der Akademie der Künste am Hanseatenweg war getreu dem Motto „Here and Now“ weder viel von der Vergangenheit zu hören noch vom Auftrag, den sie der Gegenwart erteilt. Der jüngste Krieg in Nahost nach dem Überfall der Hamas dämpft die Feierlaune und verstärkt die Empfindlichkeiten in ohnehin aufgeheizten Zeiten, deren Konfliktpotenzial sich auch in Gestalt der israelischen und palästinensischen Fellows nachzeichnen ließe.

Das Festgespräch, das die belarussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, 2015 Stipendiatin und mittlerweile fest in Berlin zu Hause, mit dem DAAD-Präsidenten und linguistisch forschenden Kölner Anglisten Joybrato Mukherjee führte, bewegte sich da auf vergleichsweise sicherem Terrain. Denn über die seelische Verfasstheit des homo sovieticus, die sie  ihren Dokumentarromanen untersucht, lässt sich auch mit Blick auf den Ukrainekrieg halbwegs kühl sprechen.

Sie erinnere sich, sagte sie, noch gut an die neunziger Jahre, als die Menschen in Osteuropa auf der Straße das Wort Freiheit riefen. Von den damaligen Partygefühlen sei wenig geblieben, stattdessen habe sich das das alte Imperium wieder eingenistet. Ein Mensch, der ein Leben lang im Lager verbracht habe, gelange eben nicht mit einem Schritt hinaus. Das gegenwärtige Ausmaß an Revanchismus aber habe sich niemand vorstellen können. Der bolschewistische Kodex sei bis heute ansteckend, gerade in den Tiefen Russlands fühlten sich die Menschen betrogen.  

Wenn sie zu ihren Gesprächen aufbreche, gehe sie nicht als berühmte Schriftstellerin, sondern als Nachbarin. Sie erzähle dann, wie sehr die politische Wachsamkeit nachgelassen und die Dunkelheit Einzug gehalten habe. Sie wolle Menschen helfen, ganz tief in sich hineinzufallen und dort, auch schmerzvoll, Schichten aufzusuchen, in die sich bisher nicht gewagt hätten. Es gelte, heilend zu wirken, um neue Widerstandskräfte zu wecken. Auch bei den Terroristen der Hamas dürfe man fragen, aus welchem Gefühl der Hilflosigkeit heraus sie, die doch auch ihre Nächsten lieben, sich so bestialisch verhalten.

Kultur sei der unentbehrliche Versuch, Menschen aus ihren Gräben herauszulocken. Dass sie, die Belarussin, dabei das Russische in Wort und Schrift bevorzugt, ficht sie bei allem Verständnis für den Widerwillen, sich der Diktion und den Ideen eines tyrannischen Imperiums zu beugen, nicht an. Es sei die einzige Sprache, in der sie die Abgründe des homo sovieticus ausleuchten könne. Das Russische selbst trage keine Verantwortung.

Zersplitterte Zukunft

Die zersplitterte Zukunft, die Merche Blasco, eine aus Spanien stammende Soundkünstlerin, demgegenüber aufrauschen ließ, hatte eher etwas Extraterrestrisches. Im DJane-Space-Outfit betreibt sie eine Art intergalaktischen Turntablism: Laptop-Musik mit selbstgebauten retrofuturistischen Controllern und verkabelten Spinnenhänden. Sie, 2022 BKP-Fellow und für nächstes Jahr mit einem Kompositionsauftrag der MaerzMusik versehen, träumt den Traum einer „imprecise technology“.

Diese bringt im Moment der Manipulation zwar zufällige Ergebnisse hervor, folgt in der elektronischen Tonerzeugung aber eisernen Kausalgesetzen. Eine Avantgarde von gestern, die, gemessen an den Anfängen der elektronischen Musik, keine grundlegend neue Hörerfahrung vermittelt. Stockhausens „Gesang der Jünglinge“ klingt heute noch origineller.

Sehr viel charismatischer und auch in ihrer theatralischen Verkleidungslust menschlicher der Soloauftritt der amerikanischen Jazzmusikerin Matana Roberts, die in den letzten Jahren unter dem Titel „Coin Coin“ aufwendige Multimedia-Projekte rund um die afroamerikanische Geschichte inszenierte. Kurz vor Beginn der Pandemie, erklärte sie, bot ihr Berlin, wo sie zuletzt beim Jazzfest auftrat, 2019 eine neue Heimstatt, weswegen sie immer wieder dankbar hierher zurückkehre.

Mit durchdringendem Ton webte sie auf ihrem Sopransaxofon erst schlichte, dann mehr und mehr ausgreifende und zerfasernde bluesige Linien, während das Publikum mit einem gesummten Bordunton assistierte, als würde es kein Morgen geben. Sehr viel charismatischer und auch in ihrer Kostümierungslust menschlicher der Soloauftritt von Matana Roberts und ihrem Sopransaxofon. Mit durchdringendem Ton webt es bluesige Linien, und das Publikum assistiert mit einem gesummten Grundton, als würde es kein Morgen geben.

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