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Moderatorin Anne Will

© picture alliance/dpa/NDR/Wolfgang Borrs

Mehr Zukunft wagen : „Anne Will“ geht, die Talkshow bleibt

Mehr Lebenswirklichkeiten, mehr Jugend, mehr Diversität bei der Einladungspraxis: Die politische Talkshow braucht Veränderung.

Ein Kommentar von Joachim Huber

Die Klammer ist genial gesetzt. Erst läuft der „Tatort“ und sammelt bis zu zehn Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer, danach folgt „Anne Will“, die von der Anziehungs- und Bindungskraft des Krimis profitiert und aus eigenem Vermögen dann bis zu vier Millionen Zuschauer erreicht. Für viele unter ihnen war diese Setzung aus Unterhaltung und Information sehr willkommen.

Und das wird so bleiben. Anne Will hat sich in den 16 Jahren ihrer Sendung um die politische Talkshow im deutschen Fernsehen verdient hat. Ihr Abschied setzt einen Punkt, aber keinen Endpunkt. Schon im Januar wird Caren Miosga mit gleichnamiger Talkshow die Tradition fortsetzen: Erst „Tatort“, dann Talk.

Der „Tatort“ hat eine sehr große Fanbase, der Talk eine sehr viel kleinere. Wie auch anders. Der Krimi führt in eine fiktionale Welt des Verbrechens, die der Zuschauer nur sehr indirekt als die seine erkennen muss. Punkt 21 Uhr 45 kann der Zuschauer loslassen. Der Talk dagegen gewährt keine Chance auf Entspannung und Eskapismus.

Hier wird, bei richtiger Themensetzung, Lebenswirklichkeit verhandelt: Migration, Ukraine-Krieg, Haushaltssperre, ein Hort der Krisenthemen. Politikerinnen und Politiker, Expertinnen und Experten, Journalistinnen und Journalisten beugen sich darüber. Es wird laut und leise, disparat und diskursiv, abseitig und inklusiv.

Derweil läuft die Kritik parallel. Nein, der CDU-Röttgen zum 38. Mal in Folge, muss das sein, dass der SPD-Kühnert wieder in der Runde sitzt, immerhin ist Andrij Melnyk vom Schirm verschwunden. Diese Kritik, zumeist in den vorlauten Medien formuliert, ist so falsch nicht.

Der politische Talk, ob „hart aber fair“, „Maybrit Illner“, „Markus Lanz“ oder eben „Anne Will“, neigt zur Cliquenbildung aus Politik und Journalismus. Der Zuschauer bleibt im buchstäblichen Sinne Zuschauer. Das ist dem Format nicht gut bekommen. Das unfreundlich gemeinte Wort von den „Eliten“ vermindert den Mehrwert und den Erkenntnisgewinn für das Publikum.

Eine politische Talkshow kann ja enorm Gutes leisten. Was im Parlament gesprochen und verhandelt wird, bleibt allermeistens im Parlament – oder verfolgt jemand ausdauernd Parlamentsfernsehen? Der Talk fasst zusammen, bündelt, konzentriert. Wer immer in der Sintflut der Äußerungen und Ereignisse unterzugehen droht, dem wird in dieser Sendung Orientierung geboten, Informationsdefizite können ausgeglichen, das Tagesgeschehen eingeordnet, Unsicherheiten aus der Welt geschafft werden.

Im besten Fall. Im schlechtesten trifft professionelle Selbstdarstellung auf behauptete Problemlösungskompetenz, ungehindert von Talkmasterin und Talkmaster inszenieren die Gäste ihre eigene Effektshow. Der Zuschauer bemerkt das, er ist über die Jahre Talkshowprofi geworden.

Und er reagiert, oft empfindlich. Die Zugkraft des linearen Fernsehens schwindet. Längst gibt es einen Generationenabriss, die Jüngeren sind ins Online-Universum abgewandert. Auch aus Verärgerung über ihre Schattenexistenz im Linearen.

Die Talkshow muss, wie andere Formate auch, mobil werden, sie braucht Verlängerungen in die digitale Öffentlichkeit. „Hart aber fair“ soll sich nach ARD-Willen aufmachen, linear und nonlinear funktionieren. Es reicht nicht, dass Moderator Louis Klamroth erst 34 Jahre alt ist. Und es reicht nicht, wenn Caren Miosga ihrer Vorgängerin Anne Will zum Verwechseln ähnlich agiert.

Mehr Lebenswirklichkeiten

Mehr Lebenswirklichkeiten, Sichtbarmachen der gesellschaftlichen Unterschiede durch eine diverse Einladungspraxis inklusive AfD, auch bei den Moderatorinnen und Moderatoren muss die Talkshow keine Lebensaufgabe sein, Lebensabschnittsaufgabe genügt. Wie bekommt man bei aller Abwechslung durch Einspielfilme und weitere Girlanden Tiefe in die Gespräche, Augenblicksmomente der Wahrhaftigkeit, Erstaunen und Empörung? Wie der „Tatort“, so darf auch die Talkshow eines nicht: langweilen.

Der Abschied von Anne Will zeigt: Die politische Talkshow braucht Zukunft, wenn sie eine haben will.

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