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Ein Container der Maersk Line im Hafen von Mannheim.

© imago / imago images/U. J. Alexander

Folgen des Ukrainekriegs: Das deutsche Wirtschaftsmodell ist nicht tot - aber gefährdet

Die Exportnation muss ihre Handelsbeziehungen drastisch diversifizieren. Wie das gehen kann.

Wird das deutsche Wirtschaftsmodell den Krieg von Präsident Wladimir Putin gegen die Ukraine und den Stopp der russischen Gaslieferungen ohne Totalschaden verkraften? Um diese Frage zu beantworten, hilft ein Rückblick auf die jüngere Wirtschaftsgeschichte.

Deutschlands Wirtschaft wurde nach dem Fall der Mauer 1989 umgestaltet. Die Liberalisierung des Handels mit den östlichen Nachbarn hatte drei tiefgreifende Auswirkungen im Inland: Erstens führte es zu dezentralisierten Lohnverhandlungen. Zweitens verflachte es das hierarchische Management in Unternehmen. Drittens erweiterte die Liberalisierung deutsche Produktionsnetzwerke nach Mittel- und Osteuropa.

Die Öffnung des ehemals kommunistischen Europas – wo die Arbeitskosten niedriger als im Westen waren – veränderte das Machtgefüge zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. Die Unternehmen konnten jetzt glaubwürdig drohen, ihre Produktion nach Osteuropa zu verlagern. Mit der Erosion gewerkschaftlicher Durchsetzungskraft verlagerten sich die Lohnverhandlungen von der nationalen auf die Unternehmensebene.

Die Handelsliberalisierung mit Osteuropa ließ die deutschen Löhne sinken

Das Ergebnis: In Deutschland sanken die Lohnstückkosten zwischen 1995 und 2012 um 30 Prozent. Die Bundesrepublik war das einzige Land in Europa, in dem es derart hohe Rückgänge gab. Während meist die Hartz-Arbeitsmarktreformen für die Senkung der deutschen Löhne verantwortlich gemacht werden, deuten ökonomischen Daten darauf hin, dass die Hartz-Reformen bei dieser Entwicklung in Wirklichkeit gar keine nennenswerte Rolle spielten. Es war die Handelsliberalisierung mit Osteuropa, die zu diesem Ergebnis beitrug.

Die Öffnung Mittel- und Osteuropas ging in deutschen Unternehmen einher mit der Einführung eines dezentralen Managements. Im Zeichen zunehmender Internationalisierung und verschärften Wettbewerbs bekam Innovation einen immer höheren Stellenwert. Um die Kreativität der Arbeitnehmer zu fördern, delegierten deutsche Unternehmen Entscheidungen an untere Managementebenen – ein effektiver Ansatz, wie sich zeigen sollte.

Man setzte zunehmend auf Qualität, und die Stärkung der unteren Führungsebenen führte dazu, dass Unternehmen mehr Produkte auf den Markt brachten, die bei Kunden gut ankamen. Das typische deutsche Unternehmen, das auf dezentrales Management setzte, steigerte seinen Exportmarktanteil um den Faktor drei, während Unternehmen, die an zentralem Management festhielten, im Allgemeinen keine solchen Zuwächse erzielten.

Die östlichen Nachbarn halfen Deutschland nach der Öffnung, mit dem Fachkräftemangel fertig zu werden.

Dalia Marin

Außerdem führte die Öffnung der ehemals kommunistischen Staaten zu erweiterten Produktionsnetzwerken in Osteuropa. Sie senkten die Kosten und halfen Deutschland, mit dem Fachkräftemangel fertig zu werden. Die östlichen Nachbarn boten der Bundesrepublik ein großes Angebot an Fachkräften, insbesondere Ingenieuren. 1998 verfügten 16 Prozent der Bevölkerung dieser Länder über einen Hochschulabschluss, in Deutschland waren es 15 Prozent.

Darüber hinaus hatte sich das Wachstum des Humankapitalstocks in Deutschland in den 1990er-Jahren auf eine Rate von 0,18 Prozent verlangsamt, verglichen mit 0,75 Prozent in den 1980er-Jahren. Wenn deutsche Unternehmen in Mittel- und Osteuropa investierten, beschäftigten sie in ihren Töchtern dreimal so viele Menschen mit akademischem Abschluss und elf Prozent mehr Forschungspersonal als in ihren Mutterunternehmen.

Bis Ende der 2000er Jahre wurde so die Produktivität deutscher Unternehmen um 20 Prozent gesteigert.

Dalia Marin

Bis zum Ende der 2000er-Jahre hatten die aus der Öffnung Mittel- und Osteuropas resultierenden Lieferketten die Kosten gesenkt und die Produktivität in deutschen multinationalen Unternehmen um gut 20 Prozent gesteigert. So konnte Deutschland sich vom ehemals kranken Mann Europas zur heutigen starken Wirtschaftsmacht entwickeln.

Lieferketten wurden schon seit 2008 in Industrieländer zurückverlegt

Doch wird das auf internationale Verflechtung aufgebaute deutsche Wirtschaftsmodell die Invasion Russlands in der Ukraine überleben? Hier ist ein Blick auf die Zeit nach der Weltfinanzkrise von 2008 interessant. Während internationale Lieferketten nach dem Fall des Kommunismus und erst recht nach Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation 2001 ein Motor der Globalisierung waren, kehrte sich dieser Trend ab 2008 um. Wachsende globale Unsicherheiten führten dazu, dass Lieferketten in reiche Industrieländer zurückverlagert wurden, auch in Deutschland.

Während die Finanzkrise die Hyperglobalisierung beendete, scheint die Covid-19-Pandemie den Prozess der Deglobalisierung ausgelöst zu haben. Der Ökonom Kemal Kilic und ich schätzen, dass Covid-19 die Lieferketten um 35 Prozent reduziert hat, gemessen am prozentualen Anteil der aus Entwicklungs- und Schwellenländern importierten Inputfaktoren an der Gesamtmenge aller verwendeten Vorprodukte.

Der Ukrainekrieg beschleunigt die Deglobalisierung

© picture alliance/dpa/AP

Jetzt beschleunigt Putins Krieg die Deglobalisierung. Er hat in der Weltwirtschaft Schockwellen ausgelöst. Schlimmer noch:Und Russlands Aggression scheint nur ein besonders gewalttätiger Ausdruck eines breiteren Trends hin zu autoritärer Herrschaft zu sein. Dieser Trend ist dem internationalen Handel, globalen Lieferketten und ausländischen Direktinvestitionen nicht förderlich.

Besorgniserregend sind in diesem Zusammenhang die jüngsten Schritte Chinas. Peking hat Importe aus Litauen gestoppt – als Vergeltung dafür, dass Vilnius es Taiwan ermöglichte, in Litauens Hauptstadt eine Repräsentanz unter eigenem Namen zu eröffnen. Außerdem verhängte China Zölle auf Importe aus Australien, nachdem Canberra eine unabhängige Untersuchungskommission über die Ursprünge des Coronavirus gefordert hatte.

Der internationale Handel hat sich in eine Arena des politischen Kampfs verwandelt, hinzu kommt der Schock über Putins Krieg und die anhaltende Unsicherheit durch die Corona-Pandemie – all das wird die Unterbrechung der Lieferketten verlängern. Je länger die Unterbrechungen aber andauern, desto wahrscheinlicher ist es, dass Unternehmen ihre Lieferketten komplett neu organisieren.

US-Finanzministerin Janet Yellen hat bereits vorgeschlagen, neben Reshoring und Onshoring auch Friend-Shoring in die Liste der strategischen Optionen aufzunehmen. In Deutschland ist das Friend-Shoring bereits im Gange. Laut einer Umfrage des Ifo-Instituts überdenkt derzeit jedes zweite deutsche Unternehmen mit Lieferketten in China sein Geschäftsmodell. Noch ist das deutsche Wirtschaftsmodell nicht tot. Aber es steht im Vergleich mit vielen anderen reichen Industrieländern vor größeren Herausforderungen.

Am besten gemeistert werden können die Herausforderungen, wenn Deutschland seine Handelsbeziehungen so diversifiziert, dass es nicht länger übermäßig stark von den Instabilitäten in einem bestimmten Land oder einer Region abhängig ist.

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