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Berlin-Kolumne: Und 2010 ist dann wieder alles normal

Die BRD wird 60, die Wiedervereinigung 20: 2009 haben wir mehrere Verabredungen mit der großen Geschichte. Guido Knopp wird nicht mehr zu bremsen sein und Zeitzeugen werden mit tränenfeuchten Augen Zeugnis ablegen. Aber nur Mut, so ein Jahr ist schnell vergangen.

Rette sich, wer kann! Mir wird schwindlig, wenn ich an das gerade angefangene Jahr denke. Der Kopf dreht sich, die Beine zittern, die Augen verschleiern sich. Denn es geht nicht um die prosaischen Alltagstermine (Friseur, Geburtstag, Zahnarzt), die mit Rotstift im Kalender festgehalten werden. Oh nein, im Jahr 2009 haben wir mehrere Verabredungen mit der Geschichte, der großen, der richtigen. Und mich schüchtert so eine Verabredung ein. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren. Die Bundesrepublik feiert ihr 60-jähriges Bestehen, und vor 20 Jahren ist in einer magischen Novembernacht die Berliner Mauer gefallen. Guido Knopp wird nicht mehr zu bremsen sein! Kein Bücherregal ohne einen ehemaligen Wehrmachtsoffizier in der ersten Reihe, eine Gesichtshälfte im Halbdunkel, die andere rötlich schimmernd. Kein Sofa ohne eine alte Dame, die mit erstickter Stimme und tränenfeuchten Augen Zeugnis ablegt. 2009 wird das Jahr der Zeitzeugen. Das Jahr des Rückblicks, entweder nostalgisch verklärt oder voll Entsetzen über die Windungen der deutschen Vergangenheit. Noch mehr als sonst wird die deutsche Nation sich einer frenetischen Innenschau hingeben. In den deutschen Wohnzimmern werden die Erinnerungen hervorquellen. Ein Niagara von Tränen.

„2009: Man wird nicht drumherumkommen!“, sagen die Fatalisten, die sich mithilfe dieser so wunderbaren deutschen und völlig unübersetzbaren Wendung bemühen, die Situation realistisch einzuschätzen. Ich stelle mir vor, wie ich im Slalom um diese feststehenden Daten kurve, im vergeblichen Bemühen, einen Zusammenstoß zu vermeiden. Denn da sind ja nicht nur die Jahrestage! Es gibt auch eine ganze Reihe von Wahlen, die sich zusammendrängen und sich gegenseitig blockieren wie die Autos im Stau des ersten Ferientages. Sehen Sie sich doch mal an, wie sie aufeinanderprallen, die zahlreichen Landtagswahlen, die Europawahlen im Juni, die Bundespräsidentenwahl im Mai und als schöner Abschluss dieser ausgedehnten Übungen in angewandter Demokratie die Bundestagswahlen im September. Nicht leicht, den Bürgersinn der Deutschen so lange wachzuhalten. Wer hat im September denn noch Lust, seinen Wahlzettel in die Urne zu werfen?

Weiter geht es zu den „Kastanienblüten“, wie man im französischen Pressejargon die unausweichlichen Ereignisse nennt, die alle Jahre wieder zur selben Zeit erblühen wie die zarten grünen Knospen an den Zweigen: Parteitage, Haushaltsdebatte, Ausverkauf und Bundesliga. Sie sind ebenso vorhersehbar wie das Ticktack einer großen Standuhr. Und kaum wage ich es, die gewohnheitsmäßigen Drängler zu erwähnen, die sich mit dem Ellbogen im letzten Moment Durchlass verschaffen und alle anderen über holen. Häufig handelt es sich um Katastrophen: Pisa-Tests, die einen schier um den Verstand bringen, die Börsenkurse im freien Fall, ein bis zwei Boris-Becker- Trennungen und ein paar saftige Rosenkriege im goldenen Olymp der Promis. Wie alle Franzosen träume ich von einem kleinen Extra, das das tägliche Einerlei würzt. Eine Schwangerschaft von Carla Bruni. Ah ja, das würde das Grau der schlechten Nachrichten doch wenigstens rosa oder himmelblau färben.

Angesichts all dieser lautstarken Gedenktage und überbordenden Wahlen können die Stammgäste ihre seit Jahrhunderten reservierten Plätze nur schwer behaupten: die Heiligen, die Feiertage, die Nationaltage müssen sich durchboxen. Vergessen ist der heilige Ulfried am 18. Januar, dem Tag der hessischen Landtagswahlen, zweiter Versuch. Wie ein Berserker muss die heilige Desirée am 23. Mai um ihre an gestammte Stellung kämpfen. Ohne die geringsten Skrupel werden Horst Köhler, Gesine Schwan und Peter Sodann sie vertreiben.

Und überhaupt, wird es noch einen kleinen Platz für das Unvorhersehbare geben? Wird auch 2009 ein Überraschungsjahr werden? Nur Mut, so ein Jahr ist schnell vergangen. Und 2010 ist dann alles wieder normal … außer der Fußball-WM, aber diesmal weit weg von Berlin. Bonne année!

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke. Von Pascale Hugues ist gerade das Buch „Marthe und Mathilde“ erschienen (Rowohlt), in dem sie das Leben ihrer beiden Großmütter erzählt.

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