zum Hauptinhalt
Illustration von Marlen Retke.

© Marlen Retke

Wenig guter Streit, viel schlimmes Gezänk: Wo ist unsere Konfliktkompetenz?

Auch nach den Silvesterkrawallen konnte man es wieder sehen: wie Auseinandersetzungen unproduktiv geführt werden. Das ist viel mehr als nur nervig.

Es mangelt nicht an Erkenntnissen und Bonmots, die den Streit loben. Konflikte seien konstitutiv für Gesellschaften, legte schon Anfang des 20. Jahrhunderts der Soziologe Georg Simmel dar. Und mit „Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine“, wird allerorten Helmut Schmidt zitiert. Doch wenn es so sein sollte, wie es der Altbundeskanzler einst zackig feststellte, sieht es derzeit eher finster für die Demokratie aus. Denn gestritten wird aktuell wenig. Eher wird geschimpft und beleidigt.  

Zuletzt boten die Krawalle der Berliner Silvesternacht Anlass für viele Auftritte von politischem Personal, bei denen zwar unterschiedliche Ansichten geäußert wurden, worauf dann aber kaum mehr folgte als erwartbare Empörungsrituale jener, die es anders sehen.  

Öffentliche Diskussionen oder Politikdebatten erschöpfen sich viel zu oft im stoischen Referieren jeweiliger Standpunkte. Alle Akteure bleiben bei ihren Ansichten, nichts bewegt sich. Folgt man dem Mannheimer Konfliktforscher Rainer Kilb, hilft es auch nicht, wenn Politiker in Hinterzimmern wahrscheinlich pragmatischer und unaufgeregter agieren als vor Publikum. Es gelte, „für die Bürger sichtbar und nachvollziehbar mit Problemen und Konflikten umzugehen“, empfiehlt er.

Die Öffentlichkeit ist keine lästige Fliege, sondern zentral für die Demokratie

Das sei „ein zentraler Gegenstand zivilgesellschaftlicher wie politischer Selbstregulation“. Soll auch heißen: Bei politischen Streitigkeiten ist das Publikum keine lästige Fliege, ohne die das Leben einfacher wäre. Es ist Teilnehmer am pluralistischen Prozess. Und letztlich ist es mehr als das politische Personal der entscheidende Faktor für die Güte und Haltbarkeit der Demokratie.  

Kilb macht als einen Grund für das „mangelhafte Umgangsvermögen mit Konflikten“ die lange vorherrschende friedfertige Zeit aus. Konflikte sind etwas Negatives geworden, verunsichernde Störfaktoren, auf die allgemein mit Verdrängung, Vermeidung, Kleinreden reagiert werde. Dazu zählt er auch Nachbarschaftsstreitigkeiten, die vor Gericht landen, und Erziehungsprobleme, die nun die Schulen regeln sollen.

Man delegiert Konflikte an Instanzen und hält sich persönlich raus. Dazu kommen jetzt noch die globalen Polykrisen von Corona bis zum Ukrainekrieg, die einerseits Streitkultur noch weiter untergraben, weil die Ressourcen für konflikthafte Situationen überstrapaziert werden, und zudem zu einer wachsenden Grundgereiztheit führen, die neue Streits provoziert.

Und jetzt noch die globalen Polykrisen, die an den Nerven zerren

Aus dem Bildungssektor liegt eine Untersuchung unter anderem von der Politikdidaktikerin Sybille Reinhardt allerdings schon von 2000 vor, der zufolge Jugendliche Konflikte als etwas Schädliches betrachten und als oberstes Ziel Harmonie und Einigkeit anstreben. Opposition im politischen Betrieb ist für sie nichts Gutes und Wichtiges mehr, sondern ein Ausgangspunkt für Unruhe.  

Zugleich gilt aber gemeinhin Konfliktfähigkeit als zentrale Kompetenz für das Leben in Demokratien, denn die sind schon ihrem Wesen nach konfliktreich. Und zwar umso mehr, je internationaler, je diverser, je kulturell und sozial unterschiedlicher ihre Zusammensetzung ist. Wenn aber der einzelne Konflikt schon als Problem gilt, wie soll man dann das Konflikt-System Demokratie wertschätzen? 

Experten weisen immer wieder darauf hin, dass Demokratie eigens und aktiv gelernt werden müsse, ob als Kompromiss-, Konsens- oder Dissensfähigkeit. Denn das Aufwachsen in einer Demokratie allein macht noch keine Demokraten.

Wenn wir verlernen anzuerkennen, dass oftmals keine kohärenten Antworten, Positionen und Geschichten existieren, verlernen wir Demokratie.

Thomas Krüger, Leiter der Bundeszentrale für Politische Bildung

Sybille Reinhardt erläuterte 2018 bei einem Vortrag, dass Demokratie-Lernen hohe kognitive Fähigkeiten brauche, denn es gelte, mit Widersprüchen und Zumutungen kompetent umgehen zu können. Thomas Krüger, Leiter der Bundeszentrale für Politische Bildung, formulierte es 2020 in einer Rede so: „Wenn wir verlernen anzuerkennen, dass oftmals keine kohärenten Antworten, Positionen und Geschichten existieren, verlernen wir Demokratie.“  

Auch Rainer Kilb würde sieht in der Schule heute die „zentrale Sozialisationsagentur“, also den Ort, an dem das Aushalten von Zumutungen und Widersprüchen erlernt wird. Und auch erlernt werden muss, wenn man in den gesellschaftlichen Strukturen nicht dauernd anecken will.

Aber kann Schule das leisten? Will man sich darauf verlassen? Ist Schule mit Problemen wie Lehrermangel, Unterrichtsausfall und Vermittlungsdefiziten in Fächern wie Deutsch oder Mathematik nicht ausgelastet? Und wenn die Familie und die Schule ausfallen als Streitkulturvermittler, wer könnte dann übernehmen? 

Die öffentlichen politischen Debatten eignen sich kaum. Sie sind wenig vorbildhaft im Sinne der Demokratiefähigkeitssteigerung. Viel zu oft wirkt es, als gehe es den Teilnehmenden auf Podien oder in TV-Formaten vor allem um Gewinnen. Gepanzert mit Gewissheiten begeben sie sich in die Auseinandersetzungsarena, Ziel: möglichst viel austeilen, möglichst wenig einstecken.

Und die Moderatoren begleiten den Kampf, greifen zwar mal regulierend ein, hetzen dann aber auch wieder auf und geben vor allem immer wieder den Gewissheiten, dem Schon-oft-Gesagten den meisten Raum – und sehr viel weniger dem Zweifel, dem Bisher-nicht-Gedachten.  

Aber gehört nicht die Bereitschaft zu Zweifeln elementar zur Streitkompetenz? Wünschte man sich nicht viel öfter die Frage an die Wortführenden: Woher nehmen Sie Ihre Gewissheit, was macht Sie so sicher? Denn wenn ohnehin keiner der Streitenden bereit ist, an seinen Ansichten jemals noch etwas zu ändern, wozu spricht man dann miteinander?

Ohne Streitkultur bleiben Konflikte in ihrem Kern in der Regel unbearbeitet, ohne dass sie deshalb verschwinden würden. Eher verstärken und vergrößern sie sich, betreffen in der Folge immer mehr Menschen, weshalb es immer mehr Ansichten zu ihnen gibt, und die Zahl der potenziellen Streitparteien wächst. 

Der Ton wird rauer, im Bundestag gibt es immer mehr Ordnungsrufe

In den politischen Debatten wird ein immer rauerer Ton beklagt, im Bundestag nimmt die Zahl der Ordnungsrufe zu, auf der Straße entladen sich Frust und Wut in tätlichen Aggressionen, nicht nur Silvester in Berlin, sondern das ganze Jahr über und fast überall. Dazu kommen der aggressive Schmäh- und Ätz-Ton, der etwa auf Twitter längst die Regel ist, Häme, Spott, Beleidigungen, garniert mit Augenroll- und Kotz-Emojis. Alles das wird kaum jemand als Streit adeln wollen. 

Um diesen destruktiven Affekten zu entgehen, ziehen sich Menschen verständlicherweise aus den Großarenen in ihre sogenannten Blasen oder Bubbles zurück, in denen sie ihresgleichen und ähnliche Ansichten und also Harmonie und Konfliktfreiheit vorfinden. Das müsste an sich noch kein Grund zur Sorge sein, wenn alle bereit und vor allem auch in der Lage wären, diese Blasen wieder zu verlassen und auszuhalten und auszutesten, wie die anderen Menschen ticken, was andere Menschen ausmacht.  

Wenn aber die Blasen immer maßgeschneiderter werden und am Ende nichts anderes mehr akzeptabel erscheint, dann ist aus dem Problem mit der Streitkultur ein Problem für die Demokratie geworden. Das kann niemand wollen. Und alle können jederzeit bei sich selbst damit anfangen, das zu ändern. Indem sie sich mal streiten – aber richtig.  

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false