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Maxi Friederike Woyke

© privat

Nachruf auf Maxi Friederike Woyke: „So ein Maximoment“

93 Wünsche hatte sie. Hinter 30 konnte sie schon einen Haken setzen. Übrig bleiben ihren Eltern, ihre Schwester. Sie suchen nach Worten

Ein Jahr ist es nun her, aber ein Jahr ist nicht genug, um zu begreifen, was geschah. Ein sonniger Tag damals, noch einmal Sommergefühle. Maxi gab am Morgen Unterricht an der Montessori-Schule, wo sie neben ihrem Studium arbeitete. Gegen Mittag machte sie sich mit dem Fahrrad auf den Heimweg. Gegen Abend klingelte die Polizei bei den Eltern in Weimar.

Die Pressemitteilung des Rundfunks Berlin-Brandenburg: „Nach ersten Erkenntnissen der Polizei war die Frau gegen 11:20 Uhr in der Schönwalder Straße unterwegs und fuhr an der Ecke Reinickendorfer Straße geradeaus in Richtung Fennstraße. Ein links neben ihr fahrender Lastwagen bog dann unvermittelt nach rechts in Richtung Nettelbeckplatz ab. Dabei wurde die Radfahrerin überrollt und schwer verletzt. Trotz der medizinischen Bemühungen eines Notarztes verstarb die junge Frau noch an der Unfallstelle.“

Maxi hatte gerade ihr sprachwissenschaftliches Studium abgeschlossen und wollte promovieren. Maxi hatte eine neue Wohnung gefunden und den Mietvertrag schon unterzeichnet. Maxi hatte so viel vor, und so viele Menschen hätten sie gern begleitet auf ihrem Weg, auch wenn die wenigsten mit ihr Schritt halten konnten.

„Mir wurde Zeile für Zeile wieder mal klar“, schreibt ihre Mutter, „was für ein Glück wir hatten, so ein Kind zu haben. Es war für uns immer unglaublich spannend Maxi beim Leben zuzuschauen. Eben weil sie mit ihren kleinen Koboldfüßen beständig neue Wege schuf. Die eingetretenen waren ihr zu langweilig. Es musste immer mal wieder um die Kurve gehen oder einen Abzweig genutzt werden.“ Wenn man nicht groß ist und Maxi heißt: Minimaxi. Recht dürr war sie, trug gern viel zu weite Retrosachen. Die Socken zog sie an, wie sie aus dem Schrank fielen, nicht unbedingt immer im gleichen Farbton. Die Haare trug sie mal im Dutt oder als Knollenfrisur, große Schals mochte sie, schöne Ohrringe, Schmuck war Erinnerung, nicht Dekor.

Die Suche nach dem „Gin des Lebens“

Ihre erste große Reise führte sie mit 16 Jahren nach Burkina Faso. Sie begriff: „Wir haben die Uhr, dort hat man Zeit“. Die Sehnsucht nach der Ferne war geweckt. Nach dem Abitur ging sie mit „Work and Travel“ nach Neuseeland und Australien. Es gab die Angst, Familie und Freunde zu verlassen, aber der Wunsch, sich selbst immer neu zu finden, war größer. Die Suche nach dem „Gin des Lebens“, wie sie es ausdrückte, weil sie Gin sehr mochte und das Leben noch mehr. Sie kam zurück. Bewarb sich an der Universität in Dresden für das Fach Philosophie. Fand zuvor noch Zeit, den Jakobsweg zu wandern. Zweitausend Kilometer in knapp drei Monaten. Kaum Zeit genug für all die Fragen, die ihr durch den Kopf gingen und die sie den Freunden mit großem Nachdruck stellte. Schlechter Rotwein und gute Gespräche. Die Perspektive wechseln, mit Worten, mit Blicken. Durch die Stadt streunen und Fotos machen: „Ich sehe was, was du nicht siehst!“

Als sie Philosophie studierte, war kaum ein alltägliches Gespräch mehr möglich, so direkt ging sie die großen Fragen des Lebens an. „Der Alltag - wer kennt ihn nicht?“, hat Maxi notiert. „Den alten Herren mit dem Hut und dem Gehstock, wie ich ihn mir manchmal vorstelle. Er ist auf seine Weise schön und auf seine Weise bringt er uns einander und uns selbst nah. Auf andere Weise lässt er uns vergessen. Zieht uns von uns selbst fort, macht, dass wir uns an manche Fragen nicht mehr erinnern können oder die gar nie geboren werden.“

Dieses gute Gefühl, ganz und gar ernsthaft sein zu können mit einem anderen Menschen, mit allen Menschen. Sie ging gern auf andere zu, am liebsten mit einem Kaffee in der einen Hand und einem Apfel in der anderen, im Gespräch wandelnd durch die Flure der Universität. Wenn es ihr selbst zu viel wurde mit dem Denken, ging sie laufen. Halbmarathon, Marathon. Wenn der Mitläufer zu sehr japste bei ihrem Trainingstempo, trug sie ihm zum Trost Gedichte vor.

In Dresden blieb sie nur ein Jahr. Dann ging sie der Liebe wegen nach Berlin, oder war es der Wechsel der Fachrichtung? Ihr Geheimnis. Es zog sie zu den Sprachwissenschaften. Buchstaben in jeglicher Zusammenkunft waren ihre große Leidenschaft: „die kleinsten Kammern deines Kopfes, in denen sich Fragezeichen voller Wunder verstecken.“ Wie oft hat sie andere zum Lachen gebracht, einfach, indem sie Worten oder Dingen einen kleinen Schubs gab, der ihnen einen ganz neuen Sinn verlieh. Wenn sie einen abholte, sagte sie manchmal „ich komme dich abspazieren“. Oder sie lud auf ein „Fußpilz“ ein, ein Bier zu Fuß. Aus der französischen Redensart „C´est la vie“ wurde mit veganer Konsequenz „Sellerie, Sellerie“. Die große Leidenschaft fürs Kochen und vor allem für das Backen. Sie arbeitete so gern im „Café Wunder“, weil sie es mochte, wenn es anderen schmeckte.

Ihr letztes großes Ziel: Indien und Nepal. Der Rucksack war gepackt, der Flug gebucht, dann wurde wegen Corona ihr Visum gecancelt. Das hat sie damals sehr traurig gemacht. Und aus der Trauer entstand die Idee für den Roman „Heute bin ich Edda“. Und wer bin ich morgen?

„Wachen ist näher als schlafen. Leben besser als sterben. Träumen größer als Folgen. Fragen besser als Wissen.“

Maxi Woyke

Die Eltern haben in ihrem Nachlass eine „Löffelliste“ gefunden. „Dinge, die ich in meinem Leben unbedingt machen möchte“. Dort sind insgesamt 93 Wünsche gelistet. Hinter dreißig konnte Maxi einen Haken malen. Wie zum Beispiel: Am Fuße eines französischen Weinbergs einen guten Schoppen mit einem lieben Menschen trinken. Fallschirmspringen. Mitternachts-Nacktbaden in Südfrankreich. Gemeinsam im Regen auf einer Wiese liegen und über das Leben und den Tod philosophieren. Lachen bis man weint. Ihr wäre noch so viel mehr eingefallen, was das Leben aufregend macht und schön und gerechter für alle. Denn ihr Denken war ruhelos. „Wachen ist näher als schlafen. Leben besser als sterben. Träumen größer als Folgen. Fragen besser als Wissen.“

Manchmal überwiegt bei den Eltern und der Schwester die Freude über all das, was Maxi erlebt hat, meist aber zehrt die Trauer über all das, was sie an Glück noch hätte willkommen heißen können. Ein Jahr ist nicht genug, all das in Worte zu fassen. Nicht in Worte, die einen Abschied ausdrücken sollen, sondern ein Fortleben der Liebe. „Du wirst bei uns sein, weil wir dich festhalten.“

Was geht einem Vater durch den Kopf, der sein Kind so früh verloren hat: „heute bereue ich zutiefst, dir nicht viel öfter meine Gedanken auf diesem Wege mitgeteilt zu haben.“ In Worten, die liebkosen: „Kleine Wolke“, das war sie für ihn, und „die Madame der Worte“, die so klug sprach, aber andere auch klug ausreden ließ.

„Es ist noch gar nicht so lange her, wir waren in Heringsdorf am Strand spazieren und dir viel nichts Spontaneres ein, als mich zu fragen, wie wir Mutti erklären, dass du in Kürze auf über 6000 Meter hohe Berge klettern willst, nur um aus guter Position den Mount Everest zu sehen.“ Den Gipfel immer im Blick. Nicht der erreicht ihn, der ihn besteigt, sondern der, der ihn im Blick behält.

Mein Herz wird endlos schwer, weil all das nur noch eine Erinnerung ist.

Die Schwester

Was fühlt eine Mutter, die ihr Kind viel zu früh verliert? Ihr „Seiltanzmädchen“, um das sie bangte, für das sie hoffte, weil ihre Gefühle irgendwann auch die eigenen gewesen waren. „Ich will mich fallen lassen. Der Fall, er schützt mich. Er nimmt mir die Angst. Es ist, als ob ich am Abgrund stehe, er ist vielleicht böse, vielleicht gut, vielleicht vollkommen neutral … und ich spüre dieses Kribbeln in meinem Bauch, es sind Furcht und Freude, die leidenschaftlich Tango tanzen. Ich mittendrin. Bin die Rose, dann der Fuß, der sanft über den Boden schwebt, das nackte Bein der Tänzerin, voller Leidenschaft, sich an das Leben schmiegend. Ich tanze auf meinem Seil, ich bin das Seiltanzmädchen – zwischen Furcht und Freude. Meine Seele so unbändig so weit. ‚Definition ist Wahn!‘, schreit sie, schreie ich. Ich schaue hinunter, schaue hinauf und springe, lasse mich fallen. Was kommt? Wer weiß das schon?“

Was empfindet die Schwester, die ihr so nah war wie kaum sich selbst? „Eigentlich ist das schon wieder so ein Maximoment. Denn sie war die Schreibende, die Wortkünstlerin von uns. In meinem Leben DAVOR, hätte ich einen solchen Text sofort ihr geschickt, damit sie noch mal mit ihrem Wissen und ihrem Können über meine Zeilen liest und dass wir dann noch mal darüber sprechen können und ich hier und da Veränderungen vornehme. Wenn ich an dich, Maxi, meine Schwester, denke, dann sehe ich immer als erstes dein Lachen vor mir und ich höre deine Stimme dazu. Dabei meine ich nicht unbedingt dein alltägliches Lachen, sondern dein Lachen aus vollem Herzen, wenn sich deine Stimme ein bisschen überschlägt und sie so ganz tief aus Herz und Bauch kommt und alles füllt. Ich denke daran und alles in mir wird warm durchflutet und gleichzeitig wird mein Brustkorb ganz eng und mein Puls schlägt unrhythmisch, denn zugleich vermisst alles in mir dieses Lachen und dich. Mein Herz wird endlos schwer, weil all das nur noch eine Erinnerung ist.

Ich sehe dich vor mir, wie du mit einem riesigen Einhornluftballon durch die Straßen Berlins läufst, wie du „Hilde“ liebevoll neben dich im Zug platzierst, um unserer gemeinsamen Patentochter zum dritten Geburtstag diesen Moment absoluten Staunens und der Fröhlichkeit zu bereiten. Ich spüre noch deine Vorfreude, dass dir diese Überraschung gelingen wird. Ich höre dein unentwegtes Tippen auf der Tastatur, manchmal hat mich das wahnsinnig gemacht - dieses schnelle Tippen. Fast immer und überall sind deine Finger über deine PC- Tastatur geflogen, weil du meist so viel zu tun hattest, weil dein Kopf voller Gedanken und Ideen war, die unbedingt zu Papier gebracht werden wollten und weil eigentlich immer ein Termin für die Uni oder eine Korrektur als Zweitjob einzuhalten war.

Ich sehe dich auf deinem Rennrad „Rike Rakete“ vor mir, wie du dich umdrehst, um zu mir zurückzublicken, um sicher zu gehen, dass ich dir folge und mich im Chaos des Großstadtverkehrs zurechtfinde. Dabei lächelst du mir etwas keck zu und ich fühle mich durch diesen, deinen Blick aufgehoben. Diese große Stadt, die mich bei Besuchen bei dir immer etwas überfordert hat, die du aber so geliebt hast und die dir im erwachsenen Leben ein Anker geworden war.

Ich spüre deine kleine, aber so starke Hand in meiner, wie oft habe ich deine Hand gehalten? Und uns darüber reden, wie wir das machen, wenn uns die Sehnsucht nacheinander überfällt oder wenn die Sehnsucht nach Orten und Menschen zu uns rollt, wie kann man der Sehnsucht nur begegnen, wie sie aushalten? Wir erzählten uns unsere kleinen Strategien und überlegten uns gemeinsam Möglichkeiten des Sehnsucht-Stillens.

Ich rieche Kaffee und sehe deine Finger um die Tasse geschlungen und höre dazu die Zeitung rascheln. Du hattest dir in deinem vollen Kalender extra diese Zeit als Termin eingetragen, denn inzwischen hattest du gelernt, dass man auch Termine mit sich selbst machen muss, um sich eine Atempause zu verschaffen. Ich fühle deine Freude, wie stolz du auf mich warst, als ich das erste Mal in der Boulderhalle eine schwierige Tour klettere, wie du mir strahlend zusahst - niemand kann sich so für mich freuen wie du … und gleichzeitig sehe ich dich, wie galant du die Wände erklimmst.

Wenn ich an dich denke, dann sehe ich dich auch immer mit einem Rucksack auf dem Rücken, bereit für die Welt und neugierig auf das, was du noch nicht kennst. Ich habe dich mal gefragt, ob du keine Angst hast vor diesen fremden, unbekannten Momenten und Situationen und du sagtest ‚doch ich habe Angst, aber ich muss die Angst, diese Hürde überwinden, weil ich das möchte: diese Welt, diese Momente‘ und ich habe immer gestaunt über deinen Mut.

Ich höre in mir deine so glückliche und vor Freude überschwingende Stimme, wie du mir von deiner ersten eigenen Wohnung erzählst, in die du nun ziehen möchtest. Alles scheint zu passen, die Wohnung selbst, dein Viertel, die Menschen um dich - alles perfekt für den Winter 2021. Ich denke daran, wie gern wir zusammen erwachsen waren, wie wir voller Spannung auf das blickten, was vor uns lag, immer in der absoluten Sicherheit, dass die jeweils andere, egal was passiert, da ist. Ich sehe uns laufend durch die Straßen von Amsterdam und Füße baumelnd am Hafen von Kopenhagen, ich spüre uns hüpfend am Strand der Ostsee und uns gegenübersitzend lesend auf dem Fensterbrett und tanzend und singend zum Konzert von Mumford & Sons. In mir sind unendlich viele Maxibilder und Schwesternmomente. Ich suche dich überall und oft rede ich mir noch ein, dass mir nur noch nicht der richtige Plan eingefallen ist, um dich wieder zurückzuholen. Manchmal, wenn meine Traurigkeit und mein Vermissen so groß sind, dass es eigentlich gar nicht in mich passt, kann ich nicht begreifen, dass mein Herz weiterschlägt, obwohl deines aufgehört hat.“

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