zum Hauptinhalt
Ungarns Regierungschef Viktor Orban wurde im April 2022 zwar wiedergewählt, braucht aber dringend eingefrorene Milliarden aus Brüssel.

© dpa / dpa/John Thys

Vor Rechtsstaats-Anhörung in Brüssel: Bundesregierung kritisiert Einschränkung von Grundrechten in Ungarn

An diesem Dienstag müssen sich die beiden Rechtsstaats-Sünder Ungarn und Polen einer Anhörung stellen. Die Bundesregierung beklagt, dass der Abbau der Demokratie in Ungarn weiter fortgeschritten ist als in Polen.

An diesem Dienstag müssen sich Ungarn und Polen in Brüssel einer aus ihrer Sicht unangenehmen Prozedur stellen. Jede Vertreterin und jeder Vertreter eines Mitgliedsstaates kann bei dem Treffen der Europaminister, an dem für die Bundesregierung Außenamts-Staatsministerin Anna Lührmann teilnimmt, zwei Fragen stellen. Die jeweilige Fragelänge beträgt maximal zwei Minuten.

Die Zeit für Fragen dürfte von den übrigen 25 Mitgliedstaaten voll ausgeschöpft werden, denn die Liste der Rechtsstaats-Verstöße Ungarns und Polens ist lang. Besonders in Ungarn gibt es zahlreiche Probleme – von der Korruption über die Einschränkung der Medienfreiheit bis zur Beschneidung von LGBTIQ-Rechten und dem Wahlrecht, das auf die Interessen des Regierungschefs Viktor Orban zugeschnitten wurde. Der polnischen Regierung unter Mateusz Morawiecki wird wiederum von der EU-Kommission und den europäischen Partnern vorgeworfen, unliebsame Richter und Staatsanwälte weiterhin zu drangsalieren.

Es gehe um eine offene, kritische und konstruktive Diskussion mit Ungarn und Polen, sagte die Grünen-Politikerin Lührmann dem Tagesspiegel vor der Brüsseler Anhörung an diesem Dienstag. Es gebe zwar vereinzelt Fortschritte in beiden Ländern, „zugleich bestehen gewichtige Defizite fort“, sagte Lührmann weiter.

„In Ungarn betrifft das vor allem die Medienfreiheit und die ständig verlängerten Notstandsgesetze“, so Lührmann. „Hier wird unser Druck nicht nachlassen.“ Die europäischen Bürgerinnen und Bürger erwarteten zu Recht, „dass wir Demokratie und Rechtsstaatlichkeit entschlossen verteidigen“. Nach den Worten der Staatsministerin seien Demokratie und Rechtsstaatlichkeit „das Fundament der Europäischen Union“.

Die vom schwedischen EU-Vorsitz anberaumte Brüsseler Anhörung findet im Rahmen des sogenannten Artikel-7-Verfahrens statt. In letzter Konsequenz kann dies Verfahren theoretisch dazu führen, dass einzelne EU-Mitgliedstaaten wegen gravierender Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit ihr Stimmrecht in der Gemeinschaft verlieren. Weil dafür eine Einstimmigkeit notwendig ist und Ungarn und Polen sich jeweils gegenseitig decken, gilt der Stimmrechts-Entzug in der Praxis aber als ausgeschlossen.

Dabei werden Polen und Ungarn in der Bundesregierung mit Blick auf das Artikel-7-Verfahren durchaus unterschiedlich bewertet. Der Grund: Der Abbau des Rechtsstaats und der Demokratie ist in Ungarn schon deutlich weiter fortgeschritten als in Polen. Gleichzeitig zeigt sich Warschau auf der Ebene der Regierungszusammenarbeit kooperativer als Budapest.

Außenamts-Staatsministerin Anna Lührmann (Grüne) sieht vor allem im Fall Ungarns Handlungsbedarf.

© dpa/Jakub Kaczmarczyk

Nach Dokumenten, die dem Tagesspiegel vorliegen, mahnte die EU-Kommission bei einem Europaminister-Treffen im April des vergangenen Jahres die schleppende Korruptionsbekämpfung in Ungarn an. Es gebe einen hohen Grad an Klientelismus und wenige tatsächliche Verurteilungen, kritisierte die Kommission seinerzeit. Die Anhörung fand damals kurz nach dem deutlichen Wahlsieg Orbans statt. Auf diesen „gewaltigen Wahlsieg“ verwies Ungarn denn auch seinerzeit in der Debatte. Die Kritik der EU-Partner wurde aus Budapest mit den Worten zurückgewiesen, dass die Gemeinschaft angesichts des Ukraine-Krieges doch lieber „auf Solidarität statt auf Spaltung setzen“ solle.

In der damaligen Diskussion über den Stand der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Ungarn ergriff auch die Bundesregierung das Wort. Was Ungarn zur Gewährleistung der Medienfreiheit tun wolle, lautete die Frage – die aber unbeantwortet blieb. Statt dessen gab es in der Sitzung die Replik aus Budapest, dass in Ungarn die „Medienlandschaft offen“ und die „Verfolgung von Korruptionsdelikten anerkannt hoch“ sei.

Die EU kann nur stark nach außen auftreten, wenn sie nach innen ihre Werte wahrt.

Anton Hofreiter (Grüne), Vorsitzender des Europaausschusses im Bundestag

Bei einer ähnlichen Diskussion ging es in Brüssel im vergangenen Oktober um Polen. Damals trug Lührmann eine gemeinsame deutsch-französische Erklärung vor, in der sie die Sicherung der europäischen Grundwerte als zentral für den Zusammenhalt in der Gemeinschaft bezeichnete. Seinerzeit prangerte die Grünen-Politikerin die mangelnde Unabhängigkeit des Warschauer Landesjustizrates an. Dem hielt Polens Europaminister Szymon Andrzej Szynkowski vel Sek entgegen, dass das Artikel-7-Verfahren zu einer unnötigen Spaltung der EU führe und beendet werden müsse.

Auch wenn bei der Anhörung im Kreis der Europaminister an diesem Dienstag wieder ähnliche Wortgeplänkel zu erwarten sind, will man in Berlin weder Ungarn noch Polen aus der Pflicht entlassen, die Standards der EU einzuhalten. Nach den Worten von Anton Hofreiter (Grüne) darf es „keinen Rabatt für Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit geben“. Die EU könne „nur stark nach außen auftreten, wenn sie nach innen ihre Werte wahrt“, sagte der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag.

Dabei steht vor allem Ungarn zunehmend unter Druck, weil die EU wegen der mangelnden Unabhängigkeit der Justiz in dem Land weiterhin Milliarden aus dem EU-Haushalt blockiert. Die Regierung in Budapest verhandelt derzeit mit der EU-Kommission, um die gesperrten Zahlungen aus dem EU-Haushalt zu erhalten. Ungarn hat Reformen angekündigt, um bis zu 28 Milliarden Euro an eingefrorenen EU-Geldern zu erhalten.

Doch nach einer schnellen Freigabe der Gelder sieht es nicht aus. EU-Parlamentarier wie Katarina Barley (SPD) pochen darauf, dass zunächst einmal alle Anforderung für eine Justizreform erfüllt werden. „Es ist sehr gut, dass die Kommission endlich den anscheinend einzig wirksamen Hebel zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit einsetzt“, sagte die Vizepräsidentin des Europaparlaments. Damit werde klargestellt, „dass die EU Autokraten nicht mitfinanziert“.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false