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Bundeskanzler Olaf Scholz bestimmt die Richtlinien der Politik. So will es die Verfassung.

© Foto: dpa/Peter Kneffel / Peter Kneffel

Atom-Entscheidung: Führung oder Fake?

Hinter dem Machtwort von Olaf Scholz steckt womöglich ein Konsens, der Machtworte entbehrlich macht. Warum die Regierung ihn versteckt.

Eine Kolumne von Jost Müller-Neuhof

Bis Anfang letzter Woche wusste niemand, wie einfach regieren ist. „Ich habe als Bundeskanzler entsprechend Paragraf 1 der Geschäftsordnung der Bundesregierung die nachfolgende Entscheidung getroffen“, steht in dem Brief von Olaf Scholz an die Ministerinnen und Minister Lemke (Umwelt, Grüne), Habeck (Wirtschaft, Grüne) und Lindner (Finanzen, FDP). Es werde „eine gesetzliche Grundlage geschaffen“, um den Betrieb von Atomkraftwerken zu ermöglichen, über den in der Koalition lange gerungen wurde.

Los, ihr Minister, legt sofort ein Gesetz vor

Es handelte sich – offenbar – um die Bundespremiere einer schriftlichen Anordnung nach Artikel 65 des Grundgesetzes, wonach der Kanzler die „Richtlinien der Politik“ auch anhand konkreter Vorhaben bestimmen kann. Die Superkompetenz über das Schicksal der Republik: Los, ihr Minister, legt sofort ein Gesetz vor; Du, Bundestag, beschließt es und Du, Präsident, unterschreibst. Und genau so läuft es gerade ab.

Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung.

Artikel 65 Satz 1 des Grundgesetzes

Die Kompetenz endet förmlich allerdings mit dem Kabinettsbeschluss des Gesetzesentwurfs. Der Kanzler führt die Geschäfte der Regierung. Das ist viel, aber nicht alles. Was danach kommt, ist Sache des Parlaments, das autonom entscheidet, ähnlich wie der Bundespräsident bei der Ausfertigung des Gesetzes. Insofern ist der Tonfall des Briefs, der das ganze Verfahren übergreift, noch eine Spur mehr als nur entschieden. Kritiker würden vielleicht sagen: Etwas anmaßend.

Ein Kanzler kann nur mit Mehrheiten ein Kanzler bleiben

Egal, vermutlich muss, wer derart „durchregiert“, solches Selbstbewusstsein zeigen. Doch wäre wirklich aufs Ärgste strittig gewesen, worum dort gestritten wurde, wäre dies das Ende der Koalition gewesen. Einseitige Ansagen geziemen sich nicht, auch nicht in der Kanzlerdemokratie. Ein Kanzler kann nur Kanzler bleiben, wenn er für seine Richtlinien künftig eine Mehrheit findet.

Wären die Adressaten wirklich vor den Kopf gestoßen worden, hätten sie sich vermutlich quergelegt. Sie könnten dann ihr Ministeramt hinschmeißen oder sogar vor das Verfassungsgericht ziehen, um den Kanzler auf Rücknahme zu verklagen. Alles möglich, aber nicht denkbar. Ebenso möglich, aber nicht denkbar: Dass der Kanzler dann die unwilligen Minister entlässt, was sein gutes Recht wäre. Denn in allen diesen Fällen wäre die Koalition geplatzt, die Regierung am Ende. Das will keiner der drei Ampelpartner, und Scholz würde es auch kaum riskieren.

Deshalb hätte der Kanzler, der als klug und weitsichtig beschrieben wird, unklug gehandelt, wenn er seine Richtlinie ohne Absprache mit den Adressaten ausgegeben hätte. Es sei denn, er wäre absolut sicher gewesen, dass sie sein Manöver mitmachen. In beiden Fällen wäre bei den Minister-Partnern aus den anderen Parteien aber eine Art Einverständnis gegeben, das es im Prinzip überflüssig macht, die Richtlinienkompetenz in Anspruch zu nehmen. Hier liegt der tiefere Grund dafür, warum Scholz’ Entscheidung so beispiellos ist. Es gab keinen Anlass dafür –außer, das Ganze so aussehen zu lassen, als habe man sich dem Chef zu fügen. Das dürfte für die Kooperation der Grünen-Minister ausschlaggebend gewesen sein, die, weil man sich als starker Partner dennoch niemals fügt, vom „Vorschlag“ des Kanzlers sprachen.

Bleibt die Frage: Wer wusste wann was? Auf eine Tagesspiegel-Anfrage, wann sie von den Absichten des Kanzlers erstmals erfahren haben, erklärten die Adressierten, Scholz habe Habeck, Lindner und Lemke „kurz vor der Bekanntgabe der Entscheidung“ am Montagabend telefonisch informiert. Kurz vorher? Ein Überfall bei einem derart bedeutsamen Thema? Vermutlich ist das Gesagte wahr, nur war es keine Antwort auf die gestellte Frage. Eine Regierungsantwort eben. Niemand soll hinter die Kulissen gucken, solange das Bühnenstück läuft. Sollte alles nur ein Trick gewesen sein, um Tatkraft zu simulieren und eine Grünen-Basis zu beruhigen – er hat funktioniert.

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