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Reicht als Ostdeutsche nicht aus: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU).

© Michael Kappeler/dpa

Vor der Regierungsbildung: Das neue Kabinett muss für Vielfalt stehen

Wenn Politik nicht von gestern sein will, muss sie sich divers präsentieren, in Neugier auf Neues und in Empathie für die Fastvergessenen. Das schließt eine ostdeutsche Identifikationsfigur ein. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Robert Ide

Jetzt wird die Regierungsbildung erst richtig spannend: Was plant die Ministerin für Digitalisierung? Wer leitet das Amt zur Rettung der ländlichen Räume? Welche Ideen hat der Minister für demografische Entwicklung? So müsste Politik diskutieren, wenn sie ins Morgen denkt, sich nicht im Heute beschränkt. Aber fünfeinhalb Monate nach der Bundestagswahl haben wir nicht mal eine richtige Regierung von gestern.

Das enorme Interesse am Mitgliederentscheid der SPD zeigt es: Politik kann in Bewegung gebracht werden – und so wieder mehr Menschen bewegen. In einer zerklüfteten Gesellschaft wächst der Wunsch nach verbindenden Ideen; auch nach Idealen, für die man sich begeistern kann. Ein Weiterwurschteln in nahezu unveränderten Ministerien darf es nicht geben, auch keine kaschierte Erneuerung mit schon altgedienten Neuanfängern.

Wie also kann sich Politik öffnen? Zunächst durch mehr Diversität. Eine vielfältige Leitung eines Landes spricht mehr Menschen an und bekommt selbst mehr mit. Sie kann viele verschiedene Interessen kundiger vertreten. Zu sehen etwa in Kanada, wo sich Sikhs, ein Inuit, ein früheres Flüchtlingskind und eine paralympische Sportlerin am Kabinettstisch versammeln. So kann Politik leicht zeigen, was ihr allzu oft schwerfällt: dass sie die Lebenswirklichkeiten der Bürger kennt, dass sie Empathie für sie empfindet. Dies ist die Wurzel für gelebte Solidarität.

Quoten sind sperrig

An einem eigentlich alten Beispiel wird der Mangel an neuer Frische hierzulande augenfällig: Es fehlt eine ostdeutsche Identifikationsfigur. Und das ausgerechnet in einer Zeit, in der in vielen Regionen zwischen Ostsee und Erzgebirge fast ein Drittel eine rechtspopulistische Partei wählt. Neben Ressentiments manifestiert sich darin die Angst vieler vor dem Ganzvergessenwerden. Und die Erkenntnis, dass im Osten auch Jahrzehnte nach dem Mauerfall noch ökonomische Benachteiligung erlebt und vererbt wird.

In der nach Berlin importierten Bonner Republik bleibt es undenkbar, ein Kabinett ohne Bayern oder Nordrhein-Westfalen zu bilden. Obwohl die ostdeutschen CDU-Landesgruppen im Bundestag mehr Abgeordnete vereinen als die CSU-Landesgruppe. Obwohl kaum weniger Menschen in Ostdeutschland leben als in NRW.

In dieser Lage eine Regierung ohne Ostdeutsche bilden zu wollen, zeigt mangelnde Vielfalt und zeugt von politischer Einfalt. Da hilft weder die Berufung eines unbekannten Quoten-Ostbeauftragten noch der hingeworfene Satz von Kanzlerin Angela Merkel, sie sei ja selbst Ostdeutsche. Durch Mitgefühl für die sozialen Probleme ihrer Landsleute ist die CDU-Chefin nie aufgefallen. Gerade jetzt braucht es aber Experten für Umbrüche, die Brüche in Biografien kennen und Aufbrüche in abgehängten Gebieten organisieren können – etwa zur Heilung des Gesundheitswesens in der Fläche, für eine flexible Betreuung von Kindern, für moderne Bildung, die mit digitalen Angeboten Lücken füllt.

Natürlich sind Quoten für Diversität sperrig und lästig. Und für immer festgeschrieben sollte nichts sein. Bald kann es wieder neue Kriterien geben, um die Vielfalt einer sich wandelnden Gesellschaft abzubilden. Gerade jetzt aber spricht die Gefühlslage im Osten dafür, ein Ministeramt mutig neu zu besetzen. Wenn Politik nicht von gestern sein will, muss sie sich divers präsentieren, in Neugier auf Neues und in Empathie für die Fastvergessenen. Um die Menschen im Heute zu repräsentieren – und sie ins Morgen mitzunehmen.

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